Kurz
nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Hortensia Banffy von den kommunistischen
Machthabern Rumäniens mit Schimpf und Schande vom Schloss gejagt. Die
alten
Leute im Dorf erzählen heute noch von ihren letzten Worten, vom Fluch der
Baronin: "Aus diesem Schloss soll eine Irrenanstalt werden!", soll
sie gerufen haben, bevor sie für immer aus Borsa verschwand.
Die Klinik im Dörfchen Borsa, eine von vielen ähnlichen Anstalten,
ist ein Schandfleck für Rumänien; das sagen auch einheimische Ärzte,
Professorinnen, Behördenmitarbeiter, Politiker oder Journalistinnen. Wer
einmal als unheilbar psychisch krank eingestuft wurde, als notorischer, vielleicht
aggressiver Alkoholiker oder einfach betagt und pflegebedürftig ist und
von der Familie nicht betreut wird, der landet in einer Klinik: abgeschoben und
vergessen, weit weg von jeglicher städtischen Infrastruktur, abgelegen und
gut versteckt, denn kein Wegweiser und kein Schild weist darauf hin, dass in
diesen Gemäuern, inmitten lieblichster transsilvanischer Landschaft, 220
erwachsene Patienten unter menschenunwürdigen Umständen vor sich hin
vegetieren.
Die Chance, dass sie die Klinik lebendigen Leibes wieder verlassen können,
ist äußerst gering; auch für die 24-jährige Denisa, die
gleichaltrige Monica und die 30-jährige Cristina. Sterben ist hier Alltag
und Normalität - Borsa bedeutet Endstation. Nur wenige Stunden vor dem Diskoabend
sind zwei Patienten beerdigt worden: sie hießen Stefan und Alexandru, der
eine wurde 72 Jahre alt, der andere 56. Vor ihrem Tode lagen sie zwei Monate
lang regungslos auf ihren Matratzen, wurden nicht gewendet und aßen kaum
mehr. Sie verfaulten richtiggehend in ihren Betten. Kaum jemand regt sich darüber
auf. Der Tod ist allgegenwärtig in der Klinik von Borsa. Und dennoch wird
hier auffallend oft von Liebe gesprochen.
Obwohl es Winter ist und draußen klirrend kalt, tragen die Diskobesucher
zum Teil bloß zerschlissene Nachthemden oder Morgenröcke, tanzen mit
nackten Füßen in kaputten Schuhen oder Pantoffeln - einige sind gar
barfuß. Ihre wenigen Habseligkeiten bewahren die Patienten unter der Matratze
auf oder gleich am eigenen Leibe, denn es gibt kaum Schränke oder Kästchen,
wo das bescheidene Eigentum aufbewahrt werden könnte. In den hoffnungslos überfüllten,
stickigen und manchmal unerträglich stinkenden Sälen des ehemaligen
Schlosses steht Bett an Bett, in einigen schlafen zwei gemeinsam, auf einer schmalen,
dreckigen Matratze.
Monica und ihre beiden Verehrer Sergiu und Petre haben sich für den Diskoabend
so hübsch wie nur möglich angezogen, geschminkt und maskiert. Bei allen
dreien wurde Schizophrenie diagnostiziert, sie leben noch nicht lange in der
Klinik und halten zusammen wie Pech und Schwefel. Falls sie nicht gerade eingesperrt
sind, gehen sie Arm in Arm durchs Klinikgelände, küssen abwechselnd
Monica und dürfen sogar gemeinsam die Mahlzeiten einnehmen, obwohl sonst
streng zwischen der Frauenschicht und der Männerschicht unterschieden wird.
(Auf den Glockenschlag hin strömen die Frauen in den Essraum, schlingen
lustlos und so schnell wie möglich die unappetitliche Pampe hinunter, stehen
auf und machen den Männern Platz, die bereits draußen auf dem Vorhof
warten.)
Am Tag nach dem Diskoabend werden Monica und Petre allerdings keine Mahlzeiten
in der Klinik einnehmen. Die beiden haben sich mitten im Tanzgeschehen zusammen
mit ihrem Freund Sergiu davongeschlichen, sind ins angrenzende Wäldchen
hinaufgestiegen und haben sich dort trotz der Kälte der Liebe hingegeben.
Monica und Petre beschlossen daraufhin, nicht mehr in die verhasste Klinik zurückzukehren.
Sie rannten weg, mitten in der Nacht, machten sich auf den Weg zu ihren Eltern,
die in Cluj wohnen, gut vierzig Kilometer von der Anstalt entfernt. Sergiu hingegen
kehrte nach dem Liebesabenteuer brav in sein Zimmer zurück; er erwartete
am nächsten Tag den Besuch seiner Mutter und hoffte, sie werde ihn wieder
zu sich nehmen.
Die Mutter kam tatsächlich, ließ den Sohn aber in der Klinik zurück.
Einen Tag später brachte die örtliche Polizei auch die beiden Ausreißer
wieder nach Borsa. Das Liebespaar hatte es bis zu den Eltern geschafft, zu Fuß,
per Anhalter und mit der Eisenbahn, doch Monicas Mutter alarmierte die Klinik
und die Polizei, und Letztere spedierte das Pärchen zurück in die Klinik.
Dort wurden Monica und Petre zur Strafe in Isolierräume gesteckt und mit
Medikamenten ruhig gestellt.
Monica musste das Loch und ihr Schicksal mit drei anderen Frauen teilen. Als
Toilette dient im Isolierraum für Frauen ein Blecheimer, der in der Mitte
des Zimmers steht. Der Isolierraum für Männer ist wesentlich größer
und wurde erst kürzlich von Angestellten freiwillig renoviert; dort gibt
es auch Toiletten, die sich allerdings in einem nicht ganz appetitlichen Zustand
befinden. Die geschlossene Abteilung für Männer gehört heute zu
den hübschesten Räumen der ganzen Anstalt, weshalb die Patienten darum
betteln, dort leben zu dürfen, und sie nehmen dafür sogar in Kauf,
eingeschlossen zu werden.
Weggesperrt von ihrem Liebsten, lässt Monica durch einen Postillon d'Amour
eine Botschaft in den Isolierraum für Männer schicken: "Petre,
ich vermisse dich, wie geht es dir? Versuche, nicht an andere Frauen zu denken!
Deine Frau Monica".
Fast jeden Morgen wartet Cristina vorn an der Pforte auf das Eintreffen der jungen Ärztin.
Am Abend in der Disko hat sie sich endlich zum Tanzen überreden lassen und
schmiegt sich nun schüchtern an ihre Tanzpartnerin. Wie die meisten der
Patienten sehnt sich Cristina nach Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Körperkontakt.
Sie gilt als oligophren und schizophren, lebt seit zehn Jahren in der Klinik
und ist glücklich darüber, in Denisa eine neue Freundin gefunden zu
haben. Anfänglich schlief Denisa bei Cristina in dem schmalen Bett, bis
eine Schlafstelle frei wurde, im gleichen Zimmer. Noch vor einem Jahr hoffte
die 30-jährige Cristina auf eine Rettung durch Silvester Stallone. Sie hatte
in einer alten Fernsehzeitschrift, die ihr in die Hände geraten war, sein
Bild gesehen und sich sofort in den Filmstar verliebt. Sie schrieb ihm einen
Brief: "Stallone, ich liebe dich sehr. Ich will, dass du schnell hierher
kommst und mich mit nach Miami nimmst. Ich warte an der Pforte auf dich. Liebe,
liebe Grüße von Cristina".
Silvester Stallone ist bis heute nicht in Borsa eingetroffen. Dafür hat
Cristina eine verletzte Taube gefunden und sie bis zu deren Tod gepflegt, sie
dann im Wäldchen vergraben - dort, wo Monica ihre Verehrer bei klirrender
Kälte geliebt hat. Seit die Taube tot ist, kümmert sich Cristina um
den Kater von Mariana, die im Raum nebenan lebt, im schönsten und saubersten
aller Frauenräume. Bobby war den Pflegern zunächst ein Dorn im Auge,
doch auf Intervention der Ärztin hin durfte er schließlich bleiben
- zur großen Freude der meisten Patientinnen.
Bobby ist der einzige Freund und Lichtblick im Leben der 52-jährigen Mariana.
Die gelernte Krankenschwester spricht mit niemandem in der Klinik, verachtet
die Patienten wie die Angestellten, empfindet alle als grob, ungebildet, vulgär
und zieht sich, wenn immer möglich, mit einem Buch ins Bett zurück,
obwohl keinerlei Privatsphäre möglich ist und in allen Zimmern ein
ständiges Kommen und Gehen herrscht. Mariana ist eine gepflegte, auffallende
Erscheinung. Sie wäscht täglich ihre Kleider im kalten Wasser, schminkt
und frisiert sich sorgfältig. Eine Fotografie aus ihrer Jugendzeit zeigt
eine hinreißend schöne Frau.
Mariana weigert sich, zusammen mit den anderen Patientinnen im öden Essraum
ihre Mahlzeiten einzunehmen und darf ihren Futternapf mit ins Zimmer nehmen.
Auch sie soll an Schizophrenie leiden und lebt seit sechs Jahren in der Klinik.
Mariana denkt nicht im Traum daran, an der Diskoveranstaltung teilzunehmen. Auf
einem kalten, schmutzigen Steinboden herumzuhüpfen, das entspricht nicht
ihrem Niveau. Wie die meisten der Patientinnen und Patienten hat sie noch nie
Besuch erhalten, seit sie in Borsa eingeliefert wurde.
Zwei Tage nach ihrer missglückten Flucht sitzt Monica mit knallrot geschminkten
Lippen auf dem Bett der Isolierzelle. Sie steckt sich eine Zigarette nach der
anderen an und schreibt sich die Seele aus dem Leib: "Draußen vor
dem Fenster ist Freiheit. Außerhalb meiner Seele ist Freiheit. In meiner
Seele ist Schmerz. Ich sage: Gott, nimm den Schmerz von meinem Herzen. Ich warte
auf die Liebe. Liebe ist Freiheit." Im Essraum, in dem auch die Disko stattgefunden
hat, wird Monica am darauf folgenden Sonntag zusammen mit ihren beiden Verehrern
an einer Messe teilnehmen, die Stefan Moldovan, der orthodoxe Pfarrer des Dorfes,
regelmäßig für die Patienten hält. Die beiden Ausreißer
dürfen für den Gottesdienst die Isolierzellen verlassen und sitzen,
gemeinsam mit Sergiu, Arm in Arm in der vordersten Reihe, hören dem Pfarrer
andächtig zu.
Moldovan ist in vollem Ornat erschienen, zusammen mit zwei Helfern. Er hat in
derselben Ecke, in der am Donnerstagabend euphorisch zu rumänischer Pop-
und Folkloremusik getanzt wurde, ein provisorisches Altärchen aufgebaut.
Weihrauch erfüllt den Saal und verdrängt für wenige Minuten den
modrigen, miefigen Krankenhausgestank. Immer mehr Menschen strömen in den
Essraum, auch viele Angestellte; ernst stehen sie da, bekreuzigen sich ständig
und nehmen nach der kurzen Predigt aus den Händen Moldovans geweihtes Brot
entgegen.
Zappelt ein Patient herum oder kann er seinen Mund nicht halten, so erntet er
einen strengen Blick des Pfarrers und strafende Worte der Angestellten und übrigen
Patienten. Die meisten aber stehen ruhig und konzentriert da. Die Messe ist eine
der wenigen willkommenen Abwechslungen im ansonsten öden Klinikalltag. Seit
die Deutschenin die Anstalt kommen, kontinuierlich materielle Hilfe, Know-how
und vor allem Aufmunterung bringen, gibt es ein klein bisschen Beschäftigung,
ein Malatelier und eine Handarbeitsstube, und nur dank der Hilfe können
die 220 Männer und Frauen auch regelmäßig warm duschen.
Seit das Schloss zur Irrenanstalt geworden sei, sagt auch der 86-jährige
Dorfbewohner Teodor Lungu, habe er keinen Schritt mehr dorthin getan. Lungu war
früher Schäfer der ungarischen Baronenfamilie Banffy, der ehemaligen
Besitzer und Feudalherrscher über die Ortschaft. Vor allem an die Baronin,
die zuletzt als allein stehende, ältere, verwitwete und kinderlose Frau
in Borsa lebte, kann sich Lungu noch bestens erinnern. Er schwärmt von der
früheren Blumenpracht im Park, von den noblen Empfängen im Schloss,
von der Mildtätigkeit der Baronin. Weil er sich mit den Schlossgärtnern
gut verstand, konnte der junge Schäfer ab und zu eine Blume aus dem Park
stibitzen und sie einer Dame seines Herzens schenken, meist zusammen mit einem
Liebesgedicht.
Blumen stiehlt der betagte, verwitwete Bauer heute keine mehr, von der Liebe
vermag er aber noch immer zu schwärmen. Keine Frau verlässt seine niedrige
Stube, ohne ein Liebeslied oder ein Liebesgedicht verehrt zu bekommen: "Ich
würde dir jetzt gerne eine Strophe widmen, denn du bist schön wie eine
Blume. Aber deine quälende Schönheit lässt sich nicht mit Worten
auffangen, nicht auf tausenden von Seiten beschreiben. Mit den besten Wünschen
für die vielen kommenden Jahre mit viel Gesundheit und viel Glück in
der Burg der Liebe."
BRIGITTE HÜRLIMANN, Jahrgang 63, ist Juristin und Journalistin und lebt
in Zürich. Sie besucht Borsa regelmäßig, auch um entstandene
Freundschaften mit Patienten, Angestellten und Dorfbewohnern zu pflegen
PETER DAMMANN, Jahrgang 50, lebt in Bern und Hamburg. Seine Fotos sind von seinen
Erfahrungen als Sozialarbeiter geprägt, oft dokumentieren sie die Arbeit
von NGO-Projekten. Er arbeitet für die Agentur Focus
taz Magazin Nr. 7681 vom 4.6.2005, Seite I-III, 523 TAZ-Bericht BRIGITTE HÜRLIMANN
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