Ich möchte zuerst meine Voraussetzung für die Inszenierung von
Opern darstellen: Ich habe keine. Vielleicht abgesehen von einer instinktiven
Neigung zu diesem Medium, und fort von diesem Medium. Wagner jedoch habe ich
immer geliebt. Vor allem seine Musik und das Monumentale in seinem Leben und
Werk. Aber vielleicht gerade aufgrund meiner Vorbehalte war mir recht klar
bewusst, dass ich in Bezug auf den „Ring“ etwas zu bieten gehabt
hätte. Ich besaß den Willen und die Liebe, und ich hatte das Gefühl,
meine fehlende Opernbildung in eine Stärke verwandeln zu können.
Oper ist für mich ein seltsames Phänomen. Diese Ansicht teile ich
wohl mit den meisten auf diesem Gebiet unkultivierten Personen. Die Welt, in
der eine Geschichte sich abspielt, ausschließlich mit singenden Individuen
zu bevölkern – ohne das ansonsten zu erklären –, ist
ein Quantensprung. Im Hinblick auf Wagner sah ich rasch nur eine einzige Möglichkeit,
nämlich, dass das Erlebnis für mich von gefühlsmäßiger
Art sein sollte. Aber wie kann man einen gefühlsmäßigen Kontakt
zum Publikum erlangen, oder, genauer gesagt, wie kann man es vermeiden, das
Entstehen dieses Kontakts zu verhindern? Man gestattet es dem Publikum, auf
das Gefühlsregister zurückzugreifen, das es aus der Wirklichkeit
kennt, indem man darauf besteht, dass die Vorstellung Wirklichkeit ist. Eine
stilisierte Wirklichkeit, eine poetische Wirklichkeit, in der die Stimmen Melodie
besitzen und die Stille klingt.
Siegfried und Wotan und Fafner und Brünnhilde und alle anderen sind wirklich
und leben in einer wirklichen Welt. Sie sind in erster Linie keine Symbole
oder Illustrationen oder Zierrat oder Abstraktionen. Sie alle besitzen eine
Psyche, durch diese entstehen Konflikte und damit Einfühlungserlebnisse
und Empfindungen des Publikums. Es kann durchaus von großer Wirkung sein,
Wagners so menschliche Gottheiten sich im englischen Industrialismus oder im
Dritten Reich tummeln zu lassen – aber besser wird das Stück davon
nicht. Wir brauchen keine Parallelen! Die sind sogar direkt störend. Überlassen
wir Parallelen und Interpretationen dem Publikum!
Wenn Fafner dem Publikum eine Gänsehaut bescheren soll, dann ist es die
verdammte Pflicht des Regisseurs, all sein Können für die Erzeugung
dieser Gänsehaut einzusetzen. Wenn Siegfried ein Held war, dann muss er
als solcher dargestellt werden, so unmodern, undankbar und politisch unkorrekt
das auch wirken mag. Wollen wir Wagner, dann wollen wir Wagner. Also stehen
wir dazu. Alles andere wäre feige. Wenn Wagner seine Inspiration aus der
Zeit der Völkerwanderung bezogen hat, dann muss das das Dogma sein, unter
dem ein Regisseur sich ans Werk macht. Ist Wagners künstlerischer Ausgangspunkt
ein Menschenbild, das wir heute nur mit Mühe hinnehmen können, dann
muss die Aufführung sich seinen Ansichten fügen: Wagners „Ring“ in
den engen Panzer des modernen Humanismus zu pressen, wäre ebenso irreführend
und falsch, wie sich im Klassiker zu suhlen, indem man sich über ihn lustig
macht. Wagner hat aus den Mythen einen Mythos geschaffen, und wer sich davor
fürchtet, soll die Finger davon lassen.
Aber wie kann man der visuellen Darstellung die nötige Wirklichkeit verleihen?
Wagner war mit der ersten Aufführung des „Ring“, die er 1876
selbst inszeniert hatte, ganz und gar nicht zufrieden. Er ärgerte sich über
die Sänger mit ihrem manirierten Gebärdenspiel. Auch die Größe
seiner Idee der fliegenden, brünnentragenden Walküren erschien ihm
in der Darstellung auf der Bühne enttäuschend blass. Die „Verwirklichung“ machte
ihm Probleme. Die Illusion seiner eigenen mythologischen Welt. Und wir wissen,
dass die Illusion für Wagner wichtig war. Denken wir nur an seine Regieanmerkungen
zum Kampf zwischen Siegfried und Fafner, in denen er en detail beschreibt,
wie groß die „Flüstertüte“ sein soll, durch die
der Sänger dem gewaltigen Tier eine Stimme verleiht.
In Wagners „Gesamtkunstwerk“ sollten alle künstlerischen Effekte
und Stilmittel Verwendung finden. Er erfand den „mystischen Abgrund“,
den versteckten Orchestergraben (die Musik sollte einfach so im Raum existieren).
Was der Komponist damit erreichen wollte, hat große Ähnlichkeit
mit dem, was wir heute Film nennen. Wollte Wagner einen Film herstellen? Vielleicht.
Für mich würde der „Ring“ als Film seine Vitalität
verlieren. Und die Idee der Oper verraten, die für mich, über die
Illusion hinaus, eben auch Vorführung ist. Wie ein Seiltanz oder ein Zauberkunststück
für den Film ungeeignet sind, so ist es auch mit der Oper. Denn die Anwesenheit
ist eine ungeheuer wichtige Zutat. Oper muss „live“ vorgeführt
werden, mit der einzigartigen Qualität des Augenblicks, für anwesende,
lebendige Menschen, von anwesenden, lebendigen Menschen.
Das Grundlegende der Illusion ist,
dass sie nur im Bewusstsein der Zuschauer existiert. Wie aber können wir sie dort zum Leben erwecken? Indem wir
andeuten. Indem wir Dinge zeigen, die die Zuschauer dazu bringen, die Illusion
zu „sehen“, die eben nicht gezeigt wird. Wenn A über B zu
C führt, dann zeigen wir A und C und überlassen B dem Zuschauer.
Das Erfolgsrezept des Zauberkünstlers. Wir sehen die Grundlage und das
Ergebnis, die Verwandlung aber sehen wir nie.
Alles, was am „Ring“ wirklich interessant ist, kann also nicht
gesehen werden! Die visuelle Mythologie ist ein klares „B“! Daraus
folgerte ich, dass sich die ultimative Inszenierung in totaler Finsternis abspielen
müsste! Indem man keine Personen, Bühnenbilder und Handlungen zeigt,
wird das Publikum in die Lage versetzt, sich davon Bilder zu machen. Wobei
die totale Finsternis für einen Regisseur zwar konsequent ist, aber auch
leicht armselig und unbefriedigend.
Meine Konklusion: das „schwarze Theater“. Oder: Eine Inszenierung
der „bereicherten Dunkelheit“. Die moderne Operninszenierung bedient
sich stets des maximalen bildlichen Ausdrucks. Sie greift zu gewaltigen, teilweise
abstrakten Bühnenbildern. Das Ergebnis ist, dass die Bühne innerhalb
weniger Augenblicke dem Publikum vertraut und zu einem Ort wird, an dem sich
alles abspielt. Das war nicht immer so. Zu Wagners Zeit wurde bei Gaslicht
gespielt, er hat also für ein um einiges niedrigeres Lichtniveau geschrieben.
Die Bedingungen für das Mystische waren dadurch viel besser. Erst nach
Einführung des elektrischen Lichts konnte man wirklich die Gesichter der
Sänger unterscheiden (und Wagner hätte erst recht Probleme mit dem
Konkreten bekommen).
Ich hatte nun vor zurückzugehen. In die Dunkelheit zu gehen, die wir dank
unserer modernen Techniken um einiges präziser einsetzen können.
Dieses Konzept ist im Grunde filmisch. Vor allem im Thriller ist die Technik,
etwas anzudeuten, ohne es zu zeigen, oft benutzt worden, weshalb sie auch mit
großem Erfolg auf die Computerspiele übertragen werden konnte. Wir
kennen aus beiden Medien das dunkle Haus, in dem der dünne Lichtstrahl
einer Taschenlampe die einzige Lichtquelle darstellt. Und mehr noch gilt das
für die Wirklichkeit: Nachts bevölkert sich die sichere Geborgenheit
unserer vertrauten Umgebung mit Dämonen. Und wie wir alle wissen, ist
das, was niemals ans Licht kommt, immer viel wirklicher und entsetzlicher.
Stellen Sie sich also zwei kleine Lichtflecken auf einer Bühne vor, oben
und unten. Wir sehen die unterste und die oberste Sprosse einer halb zerbrochenen
Leiter. In einem Thriller würde jetzt von oben Blut heruntertropfen. Während
eine Person die Leiter hochklettert und in der Dunkelheit verschwindet, beginnt
die Leiter zu beben. Wenn die Person vorher bewaffnet war, dann hat sie ihre
Waffe irgendwann in den unteren Lichtflecken fallen lassen. Es folgt eine Zeit
der Reglosigkeit. Danach fängt die Leiter oben an zu beben. Bis zwei stark
behaarte Hände sich aus der Dunkelheit lösen und sie wegreißen.
Diese Szene soll nur das gefühlsmäßige Potenzial andeuten,
das die „bereicherte Dunkelheit“ enthält.
Was den „Ring“ angeht, so meine ich, dass wir mit dieser Technik
einen großen Teil dessen hätten zeigen können, wovon Wagner
geträumt hat. Indem wir nicht „demokratisch“ beleuchten, sondern
stark manipulierend, besitzen wir die Möglichkeit, die Welt in der Vorstellung
des Publikums wachsen und sich verwandeln zu lassen. Mit Hilfe der Dunkelheit
wird es plötzlich auch viel leichter, von außen kommende Bilder
in einen glaubwürdigen Zusammenhang mit den Elementen der Bühne zu
bringen. Es bietet sich an, Videoprojektionen zu nutzen, um die Bühnenlandschaft
ins Unendliche zu erweitern. Zugleich können wir so etliche der Spezialeffekte
und „Zaubernummern“ ermöglichen, die der „Ring“ verlangt.
Das Publikum ist durch Film und Fernsehen an ein ganz anderes Sehen gewöhnt
als zu Wagners Zeiten. Mit der Technik der Lichtflecken könnte ich ein Äquivalent
zur Filmleinwand schaffen und die Bildfläche seitwärts oder vertikal
verschieben, um so „Kameraschwenks“ und Kranbewegungen nachzuahmen.
Bei einem maximalen Bühnenbeleuchtungsgrad von fünf Prozent ist klar,
dass das Detail wichtig wird. Mit meinem Bühnenbildner Karl Juliusson
habe ich ein umfassendes Bildarchiv aus Natur- und Landschaftsdetails aufgebaut – zum
Beispiel mit unterschiedlichen nordeuropäischen Moosarten und ebenso vielen
Lavaformen. Denn die mythologische Landschaft kann nur aus strikt naturalistischen
Elementen zusammengesetzt werden. Sauerampferblätter und Balkenfugen in
der Völkerwanderungszeit müssten gleichermaßen authentisch
wirken, und sei es nur für die Dauer eines Lichtstrahls. Größe
im Kleinen und Göttlichkeit in der Natur. So war mein Wagner!
Das „schwarze Theater“, das „Zaubertheater“, die „bereicherte
Dunkelheit“ ist keine einfache Größe. Der „Ring“ in
meiner Form forderte nicht nur eine peinlich präzise und teure Einrichtung
und Synchronisierung, von den vielen Videobildschirmen bis zur avancierten
hydraulischen Bühnentechnik. Außerdem tausende von sorgfältig
eingesetzten „Licht- Hinweisen“ – ganz zu schweigen von den
Schwierigkeiten, die sich bei dem bloßen Versuch ergaben, die göttliche
Dunkelheit zu bewahren.
Die Aufführung könnte also jegliche Autorität verlieren und
donnernd zu Boden stürzen, wenn sich auch nur winzigste Fehler einschlichen.
Ich behaupte nicht, dass es unmöglich gewesen wäre, doch durch meinen
krankhaften Drang zum Perfektionismus wäre es ganz einfach die Hölle
geworden.
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