Eduard von Keyserling. Wellen
München: DTV, 1998. 172 Seiten – Schriftsteller Eduard von Keyserling
Man muß nicht Jahre oder gar Generationen und hundert Personen verfolgen.
Eduard von Keyserling genügte 1911 ein einziger Sommer an der Ostsee um
mit ruhiger, farbiger Sprache ein spannendes Beziehungsgeflecht aufzubauen. Dazu
kommt er mit wenigen Personen in drei Lebenszonen aus:
• die adeligen Hauptpersonen, die nicht bemerken wollen, daß ihre
Welt ins Schlingern gerät,
• die bürgerliche Welt, die der jungen Adelsgeneration als kaum erreichbares
Ziel ihrer Sehnsucht erscheint,
• das harte, meerverbundene Leben der Fischer, das doch mehr als Kulisse
dient, aber den Naturbezug herstellt.
Der angedeutete Minimalismus darf nicht verleiten anzunehmen, man habe es mit
einem simplen oder gar schwachen Werk zu tun. Der Roman bietet genügend
Stoff zum Nach-Denken.
Noch steht die Fassade, noch wird der Realismus in der Literatur verurteilt,
jede Leiblichkeit ist verpönt und die abtrünnige Gräfing Doralice
wird zur Unperson erklärt. Sie hat es gewagt, von einer Zone in die andere
zu wechseln und sich dazu - wie verwerflich! - einen Maler ausgesucht. Doch mehr
oder weniger heimlich wird diese "süperbe Frau" verehrt und zum
Prüfstein für einige Lebenslinien. An ihr entzünden sich die dramatischen
Ereignisse.
Noch waltet eine uneingeschränkte Ordnung: "... sollte ich vormittags
sterben, das ist gar kein Grund, daß an dem Tag nicht ebenso pünktlich
gegessen wird wie sonst, sonst wird die Verwirrung nur erhöht".
Keiner werfe einen Stein oder dünke sich gegenüber der geschilderten
Zeit für fortgeschritten. Immerhin hielt man es seinerzeit "für
unhöflich, einen Augenblick mit einer jungen Frau allein zu sein, ohne ihr
eine Liebeserklärung zu machen". Davor hüte man sich in heutiger
Zeit der political correctness oder man landet unversehens vorm Kadi.
Von Keyserling malt in dezenten Farben, völlig unaufdringlich und trotzdem
glaubwürdig.
Eine empfehlenswerte Wochenendlektüre.
Wellen
Fernsehfilm, Deutschland 2004. Regie: Vivian Naefe, Drehbuch: Günter Schütter
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Göttingen, Steidl, 1998.Gebunden - 174 S.
München, btb/Goldmann, 1998. Taschenbuch - 156 S.
München, dtv, 1998. Taschenbuch - 172 S.
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by Herbert Huber, Am Fröschlanger 15, 83512 Was