Lieben, leiden, leben - eine Passionsgeschichte
Bondy mit Botho Strauss' «Die eine und die andere» in Berlin
In München sassen vor zwei Monaten, am Schluss der Uraufführung
von «Die eine und die andere», Gisela Stein und Cornelia Froboess
in Hass vereint beim Frühstück; die eine wollte aufstehen, «Sitzen
bleiben!», befahl die andere. So steht's in der letzten Szene des Zweiakters
von Botho Strauss; sie gibt eine Replik auf den ersten Akt, der damit schliesst,
dass die beiden Frauen mit ähnlichen Worten ihre endlose Tischgenossinnen-Zukunft
herbeiphantasieren. In Berlin, wo nach Dieter Dorn jetzt Luc Bondy das Stück
zweitaufführt, fehlt der Schluss. Kaum ein Zufall. Bondy weiss genau,
wie sorgfältig Strauss seine Stücke komponiert (eine jahrzehntelange
Berufsfreundschaft verbindet Regisseur und Dramatiker). Das jüngste,
in dem explizit von einer «letzten Partie» die Rede ist, zitiert
formal und inhaltlich Becketts «Endspiel». Auch bei Strauss wiederholt
sich in den zwei mehrszenigen Akten Verschiedenes; auch hier handelt es sich
um jeweils reduzierte Wiederholungen. Dasein auf der Schwundstufe. Aber kneifen
gilt nicht. Die eine: «Unterbrechen wir?» Die andere: «Weiter
im Text!»
Vielleicht wollte Bondy eine allzu deutliche Beckett-Lastigkeit vermeiden;
jedenfalls setzt er mit seiner Schlussvariante den Akzent auf einen weiteren
Subtext: Tschechow. «Die Vaterlosen» könnte das Stück
nämlich auch heissen. Es geht ja nicht nur um Insa und Lissie, die zwei
60-jährigen Frustrierten, und das Rekapitulieren ihrer lebenslänglichen
Eifersucht. Sondern auch um Elaine und Timm, ihre vom selben Mann gezeugten
Kinder, denen die Rabenmütter den Lebensraum versperren und den Zugang
zum Vater abschneiden. Deshalb steht bei Bondy zuletzt Sebastian Rudolph
auf der Bühne des Berliner Ensembles und konstatiert mit fester Stimme
und innerlichem Achselzucken, sein clochardisierter Ex-Philosoph von Vater,
der ihm eben noch ein Rendez-vous versprochen hatte, sei nicht gekommen.
Entmystifizierte Mystik
Sebastian Rudolph ist ein diskreter Timm, höflich und ruhig, grüblerisch
und nur ausnahmsweise laut. Eine Art Komplementärfigur zu Elaine, die
bei Dörte Lyssewski als impulsives Geschöpf aus Fleisch und Blut
auftritt (in München schienen Juliane Köhler und Jens Harzer, das
Halbgeschwisterpaar, einem überirdischen Bereich zu entstammen). Diese
Elaine rennt - sie ist Kurzstreckenläuferin - bei Bedarf mit dem Kopf
durch die Wand, rotbackig und nach Luft schnappend; ihre Schutzlosigkeit überspielt
sie durch ein grosses Maul, das sich gern einmal zum Schmollmund verzieht.
Neben der egomanen Vampirmutter, zu Hause in der allzeit leeren Ostprovinz-Pension,
rückentwickelt sich Dörte Lyssewski dann zu einem bebrillten Teenager
mit Strickzeug oder Zahnbürste in der Hand, stumm und ergeben stossseufzend
unter dem vorwurfsvollen Donnergewitter der herrischen Alten. In der Stadt
stakste sie auf hohen Absätzen herum, daheim geht sie barfuss - man
muss kein Schuhfetischist sein, um zu begreifen, wie stiefmütterlich-sadistisch
Insas Image-Coaching operiert, das der Tochter jeglichen Sex-Appeal abspricht.
Wenn Dörte Lyssewski in schneeweisser Unterwäsche (Kostüme:
Rudy Sabounghi) herbeitrippelt und, unterstützt durch die merkwürdigen
Partyvögel namens Schwamm und Nagel, vor dem konsternierten Sebastian
Rudolph die Passion Christi nachstellt - aus Elaines durchbohrtem Hals tropft
Blut -, kann man das verstehen als Traumvision des Tagträumers Timm.
Oder aber als eine Art Theater im Theater: Elaine, die das Ganze als «Kunstaktion» abtut,
führt die Schmerzgrenze vor, an welche Theaterkunst gelangen muss, um
Kunstleben glaubhaft herzustellen. Das Premierendatum Gründonnerstag
verstärkte den Effekt - doch letztlich drehen sich die Komödien
von Botho Strauss, deren Hintergrund die antike Tragödie bildet, immer
um den wunden Punkt des Menschseins. Leben heisst lieben und leiden.
Und zur Darstellung dieser Gleichung braucht es Gleichnisse. Sie kondensieren
die Realität in mehrdeutige Bilder. Deshalb hat Karl-Ernst Herrmann
den vorderen Bühnenrahmen mit einem blaurosa Neonband à la Dan
Flavin eingefasst; deshalb markiert er mit sparsamen Elementen einen Raum
von unwirklicher Wirklichkeit (das gespenstische No-man's-land des Oderbruchs:
perspektivisch sich verjüngende Windräder, wie sie heute in den
industrialisierten Landschaften überall auftauchen). - Bei den Kindern,
diesen zwei unerwachsenen Erwachsenen um die dreissig, wirkt die Strausssche
Mystik wie das Natürlichste der Welt. Bondy übersetzt sie, ohne
(wie Dorn) auf Psychopathologisches auszuweichen, in jene theatralische Alchemie,
die alles möglich und nachvollziehbar macht, wenn es mit Selbstverständlichkeit
daherkommt. Bei den Frauen hingegen, den beiden erwachsenen Unerwachsenen,
herrscht hochdramatischer Streit: Sie machen, wie der Volksmund sagt, ein
Riesentheater.
Siegreiche Niederlagen
Edith Clever und Jutta Lampe. Die älteren Semester unter den Zuschauern
mögen sich erinnern, wie die damals jungen Schauspielerinnen schon in «Kalldewey
Farce» rivalisierten. Seit 1982 begleitete die eine und/oder die andere
Bondy und Strauss. Nun spielen sie das theaterhistorische Comeback zweier
Diven - als Verdrängungskampf. Edith Clevers Insa, heruntergekommen
und etwas versoffen, aber trotzdem eine in sich ruhende oder besser auf dem
orthopädischen Sitzballon balancierende Darstellerin ihrer selbst, fährt
zusammen, als sich Jutta Lampes Lissie wie aus dem Nichts präsentiert
mit sekundenlang gedehntem «ö»: «Stööööre
ich?» Dumme Frage.
Sie sitzen nach wie vor im selben Boot, das nun als biederes Sofa vor einer
bühnenhohen Rosentapete steht, und rechnen ab. Beide sind gesellschaftlich
ausrangiert. Insa verrechnete sich mit ihren Ruhestandsplänen: Der Pensionsbetrieb
läuft nicht; in zerlumptem Rock rauft sie sich das strähnig gewordene
grauweisse Haar. Lissie machte die Rechnung ohne rationalisierte Marktwirtschaft:
Ihre Aufträge als Architekturkritikerin hat sie verloren, nur noch das
schwarze Hosen- Outfit mit assortiertem Rucksack und trendigen Turnschuhen
zeugt von dem Zeitgeist-Job.
Die Clever beginnt lichterloh zu brennen wie trockener Zunder, als sich diese «Lebensfeindin», «weibliche
Grossmacht», «Wegnehmerin» bei ihr installiert. Während
sie ausflippt, räkelt sich die Lampe auf dem Polster und rückt
näher, als seien die Beschimpfungen Koseworte. Sie seufzt und blickt
etwas trostlos, aber sehr anmutig ins Leere. Solche Coolness provoziert;
und die Verstrickung nimmt ihren Endlosschleifenlauf. Logischerweise schnappt
sich Lissie auch diesmal klammheimlich jenen Mann, den Insa seit Jahren im
Visier hatte: Schicksal der Rollenverteilung. Mit fein dosiertem, bösartig
leisem Triumph auf der Unschuldsmiene öffnet Jutta Lampe das Rouleau
des Schlafzimmerfensters; hinter ihr erscheint eine männliche Silhouette.
Edith Clever, gerade noch aufdringlich flirtend mit Timm, tappt erneut in
die hysterische Falle. Jeden dreckigen Etappensieg der Rivalin muss sie zelebrieren.
Wobei dieses Weibergezänk eigentlich nur Niederlagen zulässt. Bravourös
deckt das Protagonistinnenpaar die traurige Mechanik seiner solidarischen
Unglücksbeziehung auf. Jedes Detail trifft - ins Herz. Ach, es menschelt
unter den Menschinnen. Aber, und das ist der tröstliche Reingewinn,
bestechende Intelligenz, analytische Ironie und durchdringende Verstandesklarheit
sowohl der einen als auch der andern Schauspielerin verwandeln das Trauerspiel
in pure Spiellust. Also: ein Lustspiel.
Barbara Villiger Heilig
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