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LeserInnenbrief
Zeit der Rührung, Zeit der Krisen
Der dramatische Krisenindikator Botho Strauß an den großen Bühnen der Hauptstadt: Am Berliner Ensemble funktioniert er in der Regie von Luc Bondy hervorragend als Bremsklotz gegen den Fortschritt, die Volksbühne aber, die mit Strauß den Westen verstehen lernen wollte, versteht nur sich selbst
VON EVA BEHRENDT
Es ist ein Abend, der so manchem älteren Kämpen Tränen der Rührung in die Augen treiben muss. Edith Clever und Jutta Lampe, die stolzen Botho-Strauß-Miminnen ruhmreicher Schaubühnen-Zeiten, sitzen wieder gemeinsam auf einem Bühnensofa in "Die Eine und die Andere". Der liebenswürdige Luc Bondy führt unauffällig Regie, Karl-Ernst Herrmann hat mit sparsamer Raffinesse teure Dekoration entworfen, und nachdem Intendant Claus Peymann gerade dem (Ex-)RAF-Terroristen Christian Klar einen Praktikumsplatz offeriert hat, weht durchs Berliner Ensemble ein Hauch des bundesrepublikanischen Spirits der herrlichen Siebziger.
Die Frauen auf dem geblümten Sofa vor dem noch viel geblümteren Tapetenvorhang heißen Insa Breydenbach und Elisabeth Kelch, genannt Lissie. Edith Clever spielt Insa, die weißweinselige Pensionswirtin jenseits der Menopause, die in den Neunzigern - fast wie Generationsgenosse Strauß - aus der lauten Hauptstadt auf einen Gutshof im Oderbruch gezogen ist und dort mit ihrer "schmerzsüchtigen" Tochter Elaine (Dörte Lyssewski) lebt, die sie nicht erwachsen werden lässt. Dass Clevers gepflegt exzentrische Blondine im zart durchbrochenen Spitzenbody imstande sein könnte, auch nur den richtigen Schlüssel vom Rezeptionsbord zu greifen, ist gänzlich ausgeschlossen. Umso edelschöner klingt der Hass, den sie der Anderen entgegenheult.
Schließlich hat Lissie, jene ebenfalls hart auf die 60 zusteuernde, gerade arbeitslos gewordene Architekturkritikerin, einst Insa den Gatten ausgespannt und, bevor sie ihn wieder verließ, ebenfalls von ihm ein Kind empfangen: Timm (Sebastian Rudolph), kaum jünger als Elaine, vaterlos aufgewachsen wie sie, ähnlich narzisstisch verpeilt und auf der verzweifelten Suche nach einer wahren Empfindung. Während die gescheiterte Lissie - bei Lampe mit unbekümmerter Ignoranz und betont jugendlichem Auftreten gepanzert - in Insas Pension nicht nur Unterschlupf sucht, entwickelt sich zwischen den schwierigen Halbgeschwistern eine Art Liebesgeschichte.
Showdown der schicken Scharteken, Aufstieg der neurotischen Brut: Zweifellos hätte Strauß' boulevardeskes Handlungskorsett das Zeug zur bissigen Zeitgeistkomödie. Doch daraus wird nichts. Schließlich ist der bekennende Reaktionär Strauß mit der "schwachen Stimme in der Höhle unter dem Lärm" schon vor Jahrzehnten angetreten, seine dramatischen Bremsklötze gegen die rasenden Reifen des Fortschritts zu pressen. Also unterbrechen gewichtig verschwurbelte Exkurse den Gutshofs-Stadel: Etwa, wenn Timm und Elaine mit erbittertem Ernst Jesu Passionsweg im Lichtstrahl des WG-Kühlschranks nachspielen - natürlich, weil sie unter der Schmerz- und Sinnlosigkeit ihres Lebens leiden. Oder wenn ihre 68er-Mütter die Metaphysikerinnen raushängen lassen: "Alle Visionen sind Erinnerungen. Alle Vorausschau ist nur ein tieferer Rückblick."
Auch an der Volksbühne gibt es längst Momente der Rührung. Kürzlich erst und ausgerechnet bei Botho Strauß' Traumspiel-Variation "Groß und klein", als Kathrin Angerer sich als arbeitslose und überall überflüssige Single-Protagonistin Lotte mit blonder Lockenperücke, billiger Sonnenbrille und falschem Pelz aus der neunten Publikumsreihe rechts schälte und in schwerem russischem, dann rheinischem Akzent zu nölen begann: Da mussten jeden eingefleischten Volksbühnenfan ähnliche Schauer überlaufen wie die Clever-Verehrer am BE. Und ist nicht auch Frank Castorf spätestens nach dem Scheitern bei den Recklinghausener Ruhrfestspielen mitsamt seinem Panzerkreuzer Volksbühne längst in die stillen Gewässer der Selbstgenügsamkeit eingelaufen? Dazu gehört auch, dass das Theater seine Krise etwa im März-Leporello selbst behauptet. Das klingt zunächst pfiffig - und merkwürdig eitel, wenn dann ein betont schlampiger Abend folgt.
Dabei hatte doch Dramaturg Carl Hegemann blitzschnell geahnt, dass man mit "Groß und klein" von 1978, dem "typischen Weststück von einem typischen Westautor", "einen modernen Klassiker vor sich hatte, der die kapitalistische Totalität, die sich damals als Betonwüste und bleierne Zeit manifestierte, als Hintergrund für eine tragische Farce nutzte, der die Einsamkeit des auf sich gestellten Individuums in einer kalten und anonymen Welt zum Rahmen eines modernen, aber zeitlosen Stationendramas machte". Der in die kapitalistische Totalität geworfene Osten hätte hier endlich den Westen verstehen, Ost und West sich in und durch Botho Strauß wiedervereinigen können - theoretisch.
Doch ganz praktisch vergraulte das berühmt eigensinnige Volksbühnenemsemble erst mal den Gastregisseur Stefan Bachmann. Dann brachte Frank Castorf, der gerade erst für den erkrankten Christoph Marthaler Friedrich von Gagerns "Der Marterpfahl" fertig inszeniert hatte, auch "Groß und Klein" zu einem lustlosen Ende: Nach Kathrin Angerers fulminantem Auftakt passiert nicht mehr viel. Auf der Drehbühne verschieben sich die blau-weiß rautierten Häuschen eines Feriendorfes mit Minaretten, Kirch- und Leuchttürmen (Bühne Janina Audick), während sich in den Einzimmerbungalows ein paar Schauspieler anbrüllen.
Womit sie Strauß' Diagnose von der traurigen Vereinzelung moderner Individuen aus vollem Halse bekräftigen. Eines Gutes aber hat dieser Murks: An der Volksbühne kann man einfach nicht in Ruhe seine Rührung genießen.
taz Nr. 7624 vom 26.3.2005, Seite 20, 181 Zeilen (Kommentar), EVA BEHRENDT
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26. März 2005, Neue Zürcher Zeitung

Lieben, leiden, leben - eine Passionsgeschichte
Bondy mit Botho Strauss' «Die eine und die andere» in Berlin
In München sassen vor zwei Monaten, am Schluss der Uraufführung von «Die eine und die andere», Gisela Stein und Cornelia Froboess in Hass vereint beim Frühstück; die eine wollte aufstehen, «Sitzen bleiben!», befahl die andere. So steht's in der letzten Szene des Zweiakters von Botho Strauss; sie gibt eine Replik auf den ersten Akt, der damit schliesst, dass die beiden Frauen mit ähnlichen Worten ihre endlose Tischgenossinnen-Zukunft herbeiphantasieren. In Berlin, wo nach Dieter Dorn jetzt Luc Bondy das Stück zweitaufführt, fehlt der Schluss. Kaum ein Zufall. Bondy weiss genau, wie sorgfältig Strauss seine Stücke komponiert (eine jahrzehntelange Berufsfreundschaft verbindet Regisseur und Dramatiker). Das jüngste, in dem explizit von einer «letzten Partie» die Rede ist, zitiert formal und inhaltlich Becketts «Endspiel». Auch bei Strauss wiederholt sich in den zwei mehrszenigen Akten Verschiedenes; auch hier handelt es sich um jeweils reduzierte Wiederholungen. Dasein auf der Schwundstufe. Aber kneifen gilt nicht. Die eine: «Unterbrechen wir?» Die andere: «Weiter im Text!»
Vielleicht wollte Bondy eine allzu deutliche Beckett-Lastigkeit vermeiden; jedenfalls setzt er mit seiner Schlussvariante den Akzent auf einen weiteren Subtext: Tschechow. «Die Vaterlosen» könnte das Stück nämlich auch heissen. Es geht ja nicht nur um Insa und Lissie, die zwei 60-jährigen Frustrierten, und das Rekapitulieren ihrer lebenslänglichen Eifersucht. Sondern auch um Elaine und Timm, ihre vom selben Mann gezeugten Kinder, denen die Rabenmütter den Lebensraum versperren und den Zugang zum Vater abschneiden. Deshalb steht bei Bondy zuletzt Sebastian Rudolph auf der Bühne des Berliner Ensembles und konstatiert mit fester Stimme und innerlichem Achselzucken, sein clochardisierter Ex-Philosoph von Vater, der ihm eben noch ein Rendez-vous versprochen hatte, sei nicht gekommen.
Entmystifizierte Mystik
Sebastian Rudolph ist ein diskreter Timm, höflich und ruhig, grüblerisch und nur ausnahmsweise laut. Eine Art Komplementärfigur zu Elaine, die bei Dörte Lyssewski als impulsives Geschöpf aus Fleisch und Blut auftritt (in München schienen Juliane Köhler und Jens Harzer, das Halbgeschwisterpaar, einem überirdischen Bereich zu entstammen). Diese Elaine rennt - sie ist Kurzstreckenläuferin - bei Bedarf mit dem Kopf durch die Wand, rotbackig und nach Luft schnappend; ihre Schutzlosigkeit überspielt sie durch ein grosses Maul, das sich gern einmal zum Schmollmund verzieht. Neben der egomanen Vampirmutter, zu Hause in der allzeit leeren Ostprovinz-Pension, rückentwickelt sich Dörte Lyssewski dann zu einem bebrillten Teenager mit Strickzeug oder Zahnbürste in der Hand, stumm und ergeben stossseufzend unter dem vorwurfsvollen Donnergewitter der herrischen Alten. In der Stadt stakste sie auf hohen Absätzen herum, daheim geht sie barfuss - man muss kein Schuhfetischist sein, um zu begreifen, wie stiefmütterlich-sadistisch Insas Image-Coaching operiert, das der Tochter jeglichen Sex-Appeal abspricht.
Wenn Dörte Lyssewski in schneeweisser Unterwäsche (Kostüme: Rudy Sabounghi) herbeitrippelt und, unterstützt durch die merkwürdigen Partyvögel namens Schwamm und Nagel, vor dem konsternierten Sebastian Rudolph die Passion Christi nachstellt - aus Elaines durchbohrtem Hals tropft Blut -, kann man das verstehen als Traumvision des Tagträumers Timm. Oder aber als eine Art Theater im Theater: Elaine, die das Ganze als «Kunstaktion» abtut, führt die Schmerzgrenze vor, an welche Theaterkunst gelangen muss, um Kunstleben glaubhaft herzustellen. Das Premierendatum Gründonnerstag verstärkte den Effekt - doch letztlich drehen sich die Komödien von Botho Strauss, deren Hintergrund die antike Tragödie bildet, immer um den wunden Punkt des Menschseins. Leben heisst lieben und leiden.
Und zur Darstellung dieser Gleichung braucht es Gleichnisse. Sie kondensieren die Realität in mehrdeutige Bilder. Deshalb hat Karl-Ernst Herrmann den vorderen Bühnenrahmen mit einem blaurosa Neonband à la Dan Flavin eingefasst; deshalb markiert er mit sparsamen Elementen einen Raum von unwirklicher Wirklichkeit (das gespenstische No-man's-land des Oderbruchs: perspektivisch sich verjüngende Windräder, wie sie heute in den industrialisierten Landschaften überall auftauchen). - Bei den Kindern, diesen zwei unerwachsenen Erwachsenen um die dreissig, wirkt die Strausssche Mystik wie das Natürlichste der Welt. Bondy übersetzt sie, ohne (wie Dorn) auf Psychopathologisches auszuweichen, in jene theatralische Alchemie, die alles möglich und nachvollziehbar macht, wenn es mit Selbstverständlichkeit daherkommt. Bei den Frauen hingegen, den beiden erwachsenen Unerwachsenen, herrscht hochdramatischer Streit: Sie machen, wie der Volksmund sagt, ein Riesentheater.
Siegreiche Niederlagen
Edith Clever und Jutta Lampe. Die älteren Semester unter den Zuschauern mögen sich erinnern, wie die damals jungen Schauspielerinnen schon in «Kalldewey Farce» rivalisierten. Seit 1982 begleitete die eine und/oder die andere Bondy und Strauss. Nun spielen sie das theaterhistorische Comeback zweier Diven - als Verdrängungskampf. Edith Clevers Insa, heruntergekommen und etwas versoffen, aber trotzdem eine in sich ruhende oder besser auf dem orthopädischen Sitzballon balancierende Darstellerin ihrer selbst, fährt zusammen, als sich Jutta Lampes Lissie wie aus dem Nichts präsentiert mit sekundenlang gedehntem «ö»: «Stööööre ich?» Dumme Frage.
Sie sitzen nach wie vor im selben Boot, das nun als biederes Sofa vor einer bühnenhohen Rosentapete steht, und rechnen ab. Beide sind gesellschaftlich ausrangiert. Insa verrechnete sich mit ihren Ruhestandsplänen: Der Pensionsbetrieb läuft nicht; in zerlumptem Rock rauft sie sich das strähnig gewordene grauweisse Haar. Lissie machte die Rechnung ohne rationalisierte Marktwirtschaft: Ihre Aufträge als Architekturkritikerin hat sie verloren, nur noch das schwarze Hosen- Outfit mit assortiertem Rucksack und trendigen Turnschuhen zeugt von dem Zeitgeist-Job.
Die Clever beginnt lichterloh zu brennen wie trockener Zunder, als sich diese «Lebensfeindin», «weibliche Grossmacht», «Wegnehmerin» bei ihr installiert. Während sie ausflippt, räkelt sich die Lampe auf dem Polster und rückt näher, als seien die Beschimpfungen Koseworte. Sie seufzt und blickt etwas trostlos, aber sehr anmutig ins Leere. Solche Coolness provoziert; und die Verstrickung nimmt ihren Endlosschleifenlauf. Logischerweise schnappt sich Lissie auch diesmal klammheimlich jenen Mann, den Insa seit Jahren im Visier hatte: Schicksal der Rollenverteilung. Mit fein dosiertem, bösartig leisem Triumph auf der Unschuldsmiene öffnet Jutta Lampe das Rouleau des Schlafzimmerfensters; hinter ihr erscheint eine männliche Silhouette. Edith Clever, gerade noch aufdringlich flirtend mit Timm, tappt erneut in die hysterische Falle. Jeden dreckigen Etappensieg der Rivalin muss sie zelebrieren.
Wobei dieses Weibergezänk eigentlich nur Niederlagen zulässt. Bravourös deckt das Protagonistinnenpaar die traurige Mechanik seiner solidarischen Unglücksbeziehung auf. Jedes Detail trifft - ins Herz. Ach, es menschelt unter den Menschinnen. Aber, und das ist der tröstliche Reingewinn, bestechende Intelligenz, analytische Ironie und durchdringende Verstandesklarheit sowohl der einen als auch der andern Schauspielerin verwandeln das Trauerspiel in pure Spiellust. Also: ein Lustspiel.
Barbara Villiger Heilig
 
 
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