Der
Blick aus dem Fenster der Küche heute geht über die Koppeln, der Pferde einst,
und den Weiher, wo die Schilfweihe brütet jetzt, über die nun grünen Felder
zu den Schleen
in weiss, dem Graben, wo wir 1945 Zuflucht suchten vor den Bomben aufs Dorf
als die Russen kamen vom 30.April zum 1. Mai, bis zum Wald , wo wir nach 45
herumiirend den Jagdhund freiliessen. Ins Unterholz der schwarzen Schweine
und Wasser vögel oder hinter
den noch
Hasen her.
FLUCHT AUS DEM OSTEN
Vergreisung, Verarmung, Verdummung
Von Alexander Bürgin
Der Osten blutet aus. In Scharen verlassen Abiturienten und Hochschulabsolventen
die neuen Bundesländer. Der Exodus lässt das Bildungsniveau im
Osten sinken, die Zurückgebliebenen haben keine Chance gegen den Abwärtstrend.
Strukturschwachen Regionen droht die Vergreisung, Verarmung und Verdummung.
SPIEGEL ONLINE
Abrissreifes Schulgebäude in Neubrandenburg: Junge Generation wandert
ab, Städte vergreisenBerlin/Neubrandenburg - Thomas Blockus pustet
Luftballons auf. Es ist sein letzter Schultag am Albert-Einstein-Gymnasium
in Neubrandenburg. Mit seinen Mitschülern schmückt er das Schulhaus
für das Abschlussfest der Abiturienten. Thomas ist froh, dass es vorbei
ist: "Endlich weg aus der Stadt. Vielleicht nach München oder
Berlin - egal, Hauptsache weg."
Wie Thomas Blockus werden nahezu alle der 120 Abiturienten das Weite suchen.
Anders als viele Studenten aus westdeutschen Provinzen werden sie wohl
auch nach dem Studium nicht mehr in die Heimat zurückkehren. "Die
Politiker wollen doch nur noch Wachstumszentren fördern. Mecklenburg-Vorpommern
dagegen wird aufgegeben. Für junge Leute gibt es hier keine Zukunft",
sagt Thomas.
" Wer kann, haut ab"
Die Absolventen der benachbarten Regionalschule, die Haupt- und Realschule
zusammenfasst, denken ähnlich. Carsten sitzt bei seinem Berufsberater
im Arbeitsamt und lässt sich Stellenangebote ausdrucken. Findet er
bis zum Sommer keinen Ausbildungsplatz, will auch er seine Koffer packen.
Die Situation ist schwierig. Den knapp 7000 Ausbildungssuchenden im letzten
Jahr standen nur etwa 4000 Lehrstellen zur Verfügung - die Hälfte
davon staatlich gefördert. Der Berufsberater weiß: "Wer
kann, ergreift die Flucht nach vorn und haut ab." Den Abstieg der
Region in den letzten Jahren bezeichnet er als "katastrophal."
SPIEGEL ONLINE
Abiturient Thomas Blockus: Abi und tschüssAbzulesen ist die Misere
in der Entwicklung der Alterstruktur der Einwohner: In Neubrandenburg wird
2015 jeder zweite Bewohner älter als 60 Jahre sein. Mecklenburg-Vorpommern,
zur Wendezeit noch das Land mit der jüngsten Bevölkerungsstruktur,
wird 2020 das mit der ältesten sein. Stellten die 25- bis 35-Jährigen
1991 noch 17 Prozent der Bevölkerung, so waren es 2002 nur noch 11
Prozent. Durch Westwanderung und Rückgang der Geburtenrate verliert
das ärmste Bundesland bis 2020 ein Drittel seiner Bevölkerung.
Insgesamt wird der Osten Deutschlands in diesem Zeitraum um eine Million
Menschen schrumpfen. Besonders abwanderungswillig sind junge Frauen. Damit
gehen potenzielle Mütter. In manchen Regionen kommen auf eine Frau
im Alter von 18 bis 35 Jahren drei Männer.
Bildungsniveau sinkt
Die Abwanderung setzt einen Teufelskreis in Bewegung. Da überwiegend
die mit den größten Talenten und besten Qualifikationen wegziehen,
droht ganzen Landstrichen eine geistig-kulturelle Ausdünnung - was
bei den Bleibenden die Untergangsmentalität zusätzlich befördert
und die Resignation schürt. Dem wirtschaftlichen Abstieg folgt der
soziale.
DPA
Grundschule in Heckelberg-Brunow: Mit einem Hungerstreik wehrten Eltern
sich gegen die Schließung - vergeblichIm Bildungsministerium in Schwerin
beobachtet man die Entvölkerung des Landes mit Sorge. Aufgrund der
seit 1996 um ein Drittel gesunkenen Schülerzahl müssen viele
Schulen schließen. Gab es bei der Wiedervereinigung noch 970 Schulen,
so sind es heute noch 715. "In Orte ohne Schulen gibt es keinen Familienzuzug,
wohl aber massiven Wegzug", so die Presseprecherin Heike Neitzert.
Manche Siedlungen im ländlichen Raum werde es in Zukunft daher wohl
nicht mehr geben. Doch Kleinstschulen aufrecht zu erhalten, sei auch nicht
der richtige Weg. "Nur eine gewisse Mindestgröße garantiert
ein angemessenes Bildungsniveau."
Für alarmierender als die Schulschließungen hält Neitzert
die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Schultypen: "Trotz
des massiven Schülerschwundes ist die Zahl der Schüler auf Förderschulen
konstant - deren Anteil an der Gesamtzahl der Schüler steigt also." Die
Pisa-Studie habe ergeben, dass die Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern
eine Stunde länger pro Tag vor dem Fernsehen sitzen als der Bundesdurchschnitt. "Wer
für sich keine Perspektiven sieht, strengt sich nicht an. Das Bildungsniveau
der Schüler sinkt."
Untergangsstimmung bei den Dagebliebenen
Ein positives Bild von Mecklenburg-Vorpommern vermitteln dagegen die Universitäten
Greifswald und Rostock, die sich bei den Studenten wachsender Beliebtheit
erfreuen und bei Uni-Rankings auf vorderen Plätzen landen. Anders
als in überfüllten Hörsälen im alten Bundesgebiet sind
die Studienbedingungen gut, die Mieten niedrig. Doch nach dem Diplom treibt
der Mangel an Arbeitsplätzen und das niedrigere Lohnniveau die Absolventen
in die raren Wachstumszentren in Ostdeutschland - oder gleich gen Westen.
AP
Forschen an der Uni Greifswald: Gute Studienbedingungen, aber kaum JobsDie
Abwanderung aus Mecklenburg-Vorpommern beschränkt sich nicht auf die
Jugend. Auch viele der mittleren Generation halten das resignative Lebensgefühl
der Dagebliebenen nicht mehr aus. Bleiben heißt für viele, zu
den Verlierern zu gehören. Wer lebt schon gern in einer "Braindrain"-Region?
Auch die Eltern von Abiturient Thomas hat die Abwanderungslust gepackt.
Das vor drei Jahren gekaufte Haus wollen sie wieder verkaufen und wegziehen
- vielleicht in die Schweiz.
Die Untergangsstimmung wird befördert durch den Verfall der öffentlichen
Infrastruktur. Je weniger Einwohner, desto weniger Einnahmen der Kommunen
aus Steuern und Transferzahlungen - bei steigenden Ausgaben durch die höhere
Zahl von Wohngeld- und Sozialhilfeempfängern. Die Folge: Schwimmbäder
und Theater müssen schließen, die Lebensqualität in den
Städten sinkt. Bildungsbürger lassen sich so immer schwerer halten
- geschweige denn anlocken.
Negatives Image verschärft die Misere
Trotz einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent bleiben daher oft Stellen
für Hochqualifizierte unbesetzt. Firmen verlagern ihren Sitz in andere
Regionen und verstärken damit die intelligenzmäßige Ausdünnung
in den strukturschwachen Regionen, besonders in der Grenzregion zu Polen.
Indiz für die schrumpfende Bildungsschicht in Ostdeutschland ist die
Krise des Buchhandels, der in den letzten Jahren Umsatzeinbußen von
bis zu 30 Prozent verkraften musste - in der Provinz fehlt zunehmend ein
kaufkräftiger Mittelstand. Der Soziologe Klaus Hurrelmann spricht
von einer Verdummung ganzer Landstriche.
DER SPIEGEL
Bevölkerungsschwund im Osten: Strukturschwache Regionen veröden"Aus
dieser Ecke von Deutschland zu kommen - da habe ich schon manchmal das
Gefühl, die Arschkarte gezogen zu haben", sagt die Abiturientin
Julia Luchterhand. Das Negativ-Image des Ostens hat sie bei einem Bewerbungsgespräch
schon zu spüren bekommen. "Mit einem Abi aus Ostdeutschland wird
man argwöhnisch beäugt." Für einen Augenblick hat sie überlegt,
in Mecklenburg-Vorpommern zu bleiben. "Das Land ist wunderschön,
aber wenn es wirtschaftlich nicht geht, was soll ich da machen?".
Im Herbst schreibt sie sich in Den Haag für einen Bachelor in "European
Studies" ein.
Thomas Blockus verlässt das Schulhaus. Alle Luftballons sind aufgehängt.
Er blickt auf die andere Straßenseite. Dort steht ein ehemaliges
Schulgebäude, gebaut in Zeiten des Kinderreichtums statt des Wohnungsleerstandes.
Wo einst die Schüler durch die Gänge tobten, nisten Vögel.
Viele der Fensterscheiben sind eingeschlagen, an einer steht gesprayt: "Olli
stinkt". Im Herbst kommt die Abrissbirne. Das gleiche Schicksal trifft
drei weitere leer stehende Schulen in unmittelbarer Nachbarschaft. "Der
Osten verkommt, das bringt hier alles nix mehr", sagt Thomas und radelt
davon.
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