> 40/2004
27. September 2004 Druckversion | Versenden | Leserbrief
ITALIEN
Rotkehlchen am Spieß
In Italien beginnt die Jagdsaison: Sie macht Millionen Sing- und Zugvögeln den Garaus.
Mara, 74, Bäuerin in der Toskana, ist glücklich: Kinder, Enkel und Neffen sitzen bei ihr am Tisch und langen mit großem Appetit und ölverschmierten Fingern in die Pfanne. Es wird geschwatzt, gelacht, und immer wieder drückt einer seinen Zeigefinger in die Wange und dreht ihn hin und her. Die Geste ist das höchste Lob für die Köchin.
Was die toskanischen Landleute kulinarisch so begeistert, dürfte die Menschen nördlich der Alpen eher entsetzen. Denn das Festmahl besteht aus winzigen, nackten Singvogelleibern: gebrutzelten Buchfinken und Stieglitzen, Drosseln und vor allem Rotkehlchen. Diese sind so klein, dass sie mit Bein- und Flügelknochen samt Kopf verspeist werden - nur der winzige Schnabel bleibt übrig. Auch die Spieße, die Mara ihren Lieben als nächsten Gang serviert, sind mit Rotkehlchen bestückt, jeweils eine Scheibe Speck und ein Salbeiblatt dazwischen. Mindestens drei, vier Vögelchen braucht es schon, um satt zu werden. Die Gourmands der Familie verputzen auch gern zehn.
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Stare über Rom: Das große Fressen und Sterben beginntIn diesen Tagen beginnt es wieder, das große Vogelfressen - und Vogelsterben. Die Jagdsaison wird eröffnet, und jeder der rund 700 000 italienischen Jäger kann täglich bis zu 30 Stück ungeschützter Vogelarten wie Singdrosseln, Kiebitze, Wachteln, Waldschnepfen, Feldlerchen oder Turteltauben schießen. Darüber hinaus haben die zuständigen Regionalregierungen Millionen Singvögel, die eigentlich unter Artenschutz stehen, für die Dauer der Jagdsaison - etwa bis Anfang kommenden Jahres - zum Abschuss freigegeben.
Allein im Veneto, im Nordosten Italiens, dürfen damit weitere 21 Millionen Singvögel legal erlegt werden, darunter 6 Millionen Stare und 3,6 Millionen Finken. In der Lombardei wird es 50 bis 60 Millionen Kleinvögel erwischen, in der Toskana und Umbrien kaum weniger.
Die Schrotsalven, in denen die meisten Piepmätze umkommen, sind aus extra feinem Korn, verschossen mit besonders großer Streuwirkung. Allenfalls zwei Körnchen treffen so im Schnitt einen Vogelkörper. Das reicht, um ihn zu töten, ohne ihn zu zerfetzen. Denn sonst wird es unmöglich, die zerbrechlichen, nur wenige Gramm schweren Tiere ordentlich zu rupfen.
Andere Vögel, die dem legalen Schrot entkommen, fallen den zwar verbotenen, aber weit verbreiteten Fallen, Leimruten und Netzen zum Opfer. In der Gegend von Brescia werden die Zugvögel, die sich nach der mühsamen Alpenüberquerung erschöpft zur Rast niederlassen, zur Beute von besonders grausamen Bogenfallen: Kopfüber, mit zersplitterten Beinen bleiben sie darin hängen, lebendig, bis der Vogelfänger kommt und ihnen den Hals umdreht. Kriminelle Banden setzen Tausende solcher Fallen aus und erbeuten damit täglichBerge von Rotkehlchen, Nachtigallen, Gimpel oder Zaunkönige. Diese werden dann in Feinkostläden oder an Marktständen für viel Geld vertrieben, schwarz natürlich.
Deutsche Naturschützer machen seit langem gegen das "Vogelmassaker" mobil. Am Gardasee treffen sie sich Ende dieser Woche mit italienischen Gleichgesinnten wie schon im vergangenen Jahr, um gemeinsam mit Forstpolizisten und Jagdaufsehern illegale Fanggeräte aufzuspüren. Im Vorjahr wurden so 12 000 Fallen und drei Kilometer Netze abgebaut.
Viel Verständnis bei den Einheimischen finden die Nordlichter im Süden nicht. Dazu ist die Liebe zu den traditionellen Vogelmahlzeiten rund ums Mittelmeer, in Italien wie in Frankreich, aber auch auf Malta und Zypern, zu ausgeprägt.
Hunderte Millionen Euro Steuergeld, argumentieren die Tierfreunde, würden in Mittel- und Nordeuropa jährlich für den Vogelschutz ausgegeben. Manche Bestände nehmen deshalb wieder leicht zu, wie etwa Wanderfalken, Uhus und Kolkraben. Aber viele Spezies - wie die Singdrossel - werden trotz aller Bemühungen seit Jahren seltener. Und ausgerechnet diese Arten würden im Süden Europas hemmungslos gejagt.
Ganz falsch, halten die Südländer dagegen: Die Industrialisierung der Landwirtschaft, der Einsatz von Pestiziden und Insektiziden, Flussbegradigungen und Flurbereinigungen im Norden, gerade in Deutschland, hätten den Vögeln dort die Lebensräume genommen. In Italien sei die Natur noch weitgehend intakt. Klatschmohn und Kornblumen auf den Feldern belegten das - und eine reiche Vogelwelt. Wenn es aber genug gebe, warum sie dann nicht jagen und essen?
Nicht einmal Störche, Greifvögel oder Meisen, die von der EU-Vogelschutzrichtlinie unter strengsten Schutz gestellt sind und nirgendwo gejagt werden dürfen, widerstehen solcher Logik. Auch das Rotkehlchen gehört in diese Gruppe und wandert doch in Maras toskanische Pfanne oder in den Küchen rund um Bergamo in die Polenta.
Mitunter kommen noch ganz andere Argumente hinzu, die jeden Vogelschutzgedanken im Keim ersticken. In Kalabrien etwa, auf den Steilhängen an der Meerenge von Messina, von denen man hinüber nach Sizilien schauen kann, werden verbotenerweise Falken gejagt. Denn diese Beute verspricht dem abergläubischen Jäger ein Jahr lang Gewissheit: Seine Ehefrau, heißt es, wird ihn so lange nicht betrügen.
HANS-JÜRGEN SCHLAMP