Enteignungsurteil
Neusiedler und Alteigentümer
Von Reinhard Müller
22. Januar 2004 Der rechtliche Streit über die sogenannte
Bodenreform geht in seine letzte Phase. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte befaßt sich an diesem und am kommenden Donnerstag
mit den Folgen der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen
Besatzungszone. Nachdem die Betroffenen den deutschen Instanzenweg erfolglos
beschritten hatten, prüfen nun die Straßburger Richter, ob der
deutsche Staat die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt hat.
Im Kern geht es nicht um eine Beurteilung der damaligen Konfiskationen, als
weder das Grundgesetz noch die Menschenrechtskonvention galten, sondern um
den Umgang mit den Vermögenswerten durch den deutschen Gesetzgeber.
Daß der Ausschluß einer Rückgabe des enteigneten Vermögens
Bedingung für die deutsche Einheit gewesen sei, diese Behauptung deutscher
Regierungsvertreter hat das Bundesverfassungsgericht 1991 akzeptiert. Damit
war allerdings noch nichts darüber gesagt, wie der dann souveräne
deutsche Gesetzgeber diese Grundfrage regeln durfte.
An diesem Donnerstag fällt in Straßburg zunächst eine Entscheidung
zu den sogenannten Neusiedlern. Das sind Vertriebene oder "Neubauern" (beziehungsweise
deren Erben), die durch die Bodenreform Agrarland erhalten hatten. Das Land
wurde später in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften überführt,
es unterlag zu DDR-Zeiten erheblichen Beschränkungen. Mit dem "Modrow-Gesetz" von
1990 erklärte allerdings die Volkskammer die Neusiedler und ihre Nachkommen
zu Volleigentümern, Beschränkungen über Nutzung oder Verkauf
der Grundstücke wurden aufgehoben. 1992 legte der Deutsche Bundestag
fest, daß nur Angehörige, die vor dem 15. März 1990 in der
Land-, Forst- oder in der Nahrungsmittelwirtschaft tätig waren, ihr
geerbtes Land behalten durften. Ansonsten ging das Land ohne Entschädigung
an die Bundesländer. Von der Regelung sind etwa 70 000 frühere
DDR-Bürger betroffen. Nach Auffassung der Bundesregierung wurden sie
nur zufällig und unrechtmäßig Eigentümer des Landes.
Als beachtlichen Erfolg stuften es die Straßburger Beschwerdeführer
ein, daß der Gerichtshof im September des vergangenen Jahres über
ihre Sache mündlich verhandelte. Das geschieht nur in wenigen Fällen.
So auch in der kommenden Woche. Dann geht es vor dem Gerichtshof um das Entschädigungs-
und Ausgleichsgesetz. (Fortsetzung Seite 2.)
Damit sollten diejenigen entschädigt werden, die ihr Land - im Gegensatz
zu den nach 1949 Enteigneten und NS-Opfern - nicht zurückerhalten. Bemerkenswerterweise
ist das Eigentum in der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst
nicht verankert, sondern im 1. Zusatzprotokoll niedergelegt. Demnach darf
Eigentum nicht entzogen werden, es sei denn, das öffentliche Interesse
verlangt es und nur unter den durch Gesetz und die allgemeinen Grundsätze
des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Der Gerichtshof hat entschieden,
daß Enteignungen einmalige Eingriffe sind, die keine andauernden Auswirkungen
hätten. Die Bundesrepublik Deutschland haftet nach Straßburger
Rechtsprechung nicht für Enteignungen, die vor ihrer Gründung vorgenommen
wurden.
Gleichwohl sind die Straßburger Beschwerden nicht ohne Aussicht auf
Erfolg. Der Gerichtshof hat den Klägern vier Fragenkomplexe zukommen
lassen: Er will etwa wissen, ob sie eine "legitime Erwartung" darauf
gehabt hätten, in den "effektiven Genuß eines Eigentumsrechts" zu
kommen. Die Kläger begründen ihre "legitime Erwartung" damit,
daß selbst das Verfassungsgericht 1991 die Bodenreform-Enteignungen
für rechtsstaatlich "nicht hinnehmbar" erklärt hat. Nach
dem Völkerrecht seien sie sogar nichtig. Demnach konnten sie ihr Eigentum
nicht verloren haben. Die eigentliche Eigentumsentziehung sei erst mit dem
Einigungsvertrag erfolgt. Zudem verstößt die Art und Weise der
Entschädigung nach Ansicht der Kläger gegen das Diskriminierungsverbot
der Menschenrechtskonvention. Tatsächlich gibt es Fälle, in denen
der Verkehrswert der Grundstücke etwa 10 Millionen Euro beträgt,
jedoch nur eine Entschädigung von etwa 15 000 Euro gewährt wurde.
Nicht anerkennen wollen die Kläger das Argument des begrenzten finanziellen
Spielraums des deutschen Staates, des "Hauptprofiteurs der rechtswidrigen
Vermögenseingriffe". Freilich blicken die Straßburger Richter,
zu denen auch Osteuropäer gehören, ebenso auf das (politische)
Ergebnis ihrer Entscheidungen wie ihre Kollegen in Karlsruhe.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2004, Nr. 18 / Seite 1
nach oben Drucken Versenden Kontakt Hilfe Mehr über
die F.A.Z. Syndikation
FAZ.NET-Impressum redaktioneller Kodex Nutzungsbedingungen Online-Werbung
© F.A.Z. Electronic Media GmbH 2001 - 2004