23. September 2004,  02:06, Neue Zürcher Zeitung
Ostdeutsche Reform-Opfer in Strassburg
Recht auf Rückgabe enteigneten Besitzes angestrebt
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat am Mittwoch ein Verfahren begonnen, bei dem entschieden werden muss, ob die Opfer der Bodenreformen in der ehemaligen DDR Anspruch auf eine Rückgabe ihres einstigen Besitzes haben. Ein positives Urteil könnte vor allem für die öffentliche Hand gravierende Folgen haben.
uth. Strassburg, 22. September
Steht ehemaligen Grossgrundbesitzern in den ostdeutschen Bundesländern das Recht auf Rückgabe ihrer von der sowjetischen Besatzungsmacht oder der DDR enteigneten L ä ndereien zu? Oder konnten sie nach der Wiedervereinigung wenigstens eine dem heutigen Wert entsprechende Entschädigung erwarten? Sind sie durch das deutsche Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 in ihren Grundrechten verletzt worden? Mit diesen Fragen befasst sich seit Mittwoch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Unterschiedliche Massstäbe?
In einer mündlichen Verhandlung vor d er Grossen Kammer muss zunächst die Zulässigkeit und Relevanz der Beschwerden erneut geprüft werden. Zu den im Mai 2001 eingereichten Beschwerden hatte es schon im Januar 2004 eine Anhörung der Parteien vor einer kleineren Kammer gegeben, die das Verfahren aber wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung im März an die Grosse Kammer abgab. Ein solcher Schritt ist möglich, wenn eine Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung aufwirft oder das Urteil zu einer Abweichung von früheren Entscheidungen des Gerichtshofs führen kann. Die Klagen waren von einem Freiherrn von Maltzan und von Margarete von Zitzewitz für zwei Gruppen von deutschen und einem schwedischen Staatsangehörigen sowie zwei juristischen Personen eingereicht worden, weil sie mit ihren entsprechenden Beschwerden vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht gescheitert waren. Dort hatten sie geltend gemacht, dass die Bestimmungen des Gesetzes v on 1994 in Widerspruch zum deutschen Grundgesetz ständen, weil sie Entschädigungszahlungen vorsähen, die unter dem gegenwärtigen Verkaufswert der enteigneten Güter lägen.
Mit derselben Argumentation berufen die Kläger sich nun auch in Strassburg auf das Protokoll 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention, das den Schutz des Eigentums garantiert. Die Kläger sehen in dem Gesetz auch einen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot, weil ihnen als Privatpersonen im Gegensatz zu öffentlichen Körperschaften wie Kommunen und Ländern kein Recht auf Rückerstattung der unrechtmässig enteigneten Güter zuerkannt worden sei. Die beiden juristischen Personen führen an, dass ihnen nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 weder ein Recht auf Rückerstattung ihrer Güter noch ein Recht auf Ausgleich zugestanden worden sei. Die deutsche Bundesregierung beruft sich als Beklagte auf die 1990 nach dem Fall der Mauer verabschiedete gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen, wonach die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage nicht rückgängig zu machen seien. Auch seien die Ländereien bis zur Wiedervereinigung für die Kläger längst unwiderruflich verloren gewesen. Auf vage Hoffnungen lasse sich kein Rechtsanspruch begründen. Mit dem Entschädigungsgesetz habe die Bundesregierung versucht, so weit wie möglich erlittenes Unrecht auszugleichen. Daraus könne aber kein Anspruch abgeleitet werden, Opfer der Bodenreform gegenüber den Vertriebenen aus Polen, Russland oder Tschechien besserzustellen.
Für den Staat könnte es teuer werden

Für die Strassburger Richter unter dem Vorsitz des Gerichtspräsidenten Luzius Wildhaber aus der Schweiz wird allenfalls die Frage von Bedeutung sein, ob die Ländereien, die noch heute im Besitz des Staates sind, ihren früheren Besitzern zurückgegeben werden können oder gar müssen. Dafür gibt es Präzedenzfälle. So erhielten die Universität Greifswald wie auch die Stadt Stralsund umfangreiche Ländereien zurück. Sollten die Richter diese Frage generell bejahen, kämen sie bei dem inzwischen neuen Eigentümern gehörenden Grundbesitz kaum an einer dem realen Verkehrswert entsprechenden Entschädigung der Altbesitzer herum. Beides aber würde sowohl bei der Bodenbesitz-Struktur in Ostdeutschland als auch hinsichtlich der Belastung der öffentlichen Haushalte einem Umsturz gleichkommen.
 

 
 
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[Nr. 444]
22.09.2004
 
 
 
MÜNDLICHE VERHANDLUNG VOR DER GROSSEN KAMMER
VON MALTZAN UND ANDERE, VON ZITZEWITZ UND ANDERE SOWIE MAN FERROSTAAL UND ALFRED TÖPFER STIFTUNG
GEGEN DEUTSCHLAND
 
 
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält am Mittwoch, 22. September 2004, 9 Uhr, eine mündliche Verhandlung vor der Großen Kammer über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerden in den Fällen von Maltzan und andere gegen Deutschland (Beschwerde Nr. 71916/01), von Zitzewitz und andere gegen Deutschland (Nr. 71917/01) und Man Ferrostaal und Alfred Töpfer Stiftung gegen Deutschland (Nr.10260/02) ab.
 
 
Beschwerdeführer
 
Die Beschwerden wurden von 68 Personen deutscher Staatsangehörigkeit, einer Person schwedischer Staatsangehörigkeit und zwei juristischen Personen deutschen Rechts eingereicht. Die erste Beschwerde wurde von Wolf-Ulrich Freiherr von Maltzan, und 46 weiteren natürlichen Personen eingereicht und die zweite Beschwerde von Margarete von Zitzewitz und 21 weiteren natürlichen Personen. Die dritte Beschwerde wurde von der Alfred Töpfer-Stiftung und dem Unternehmen Man Ferrostaal eingebracht.
 
 
Sachverhalt
 
Bei den Beschwerden geht es um eine der großen Fragen, die sich nach der deutschen Wiedervereinigung gestellt haben: In welcher Weise ist den Personen, die entweder nach 1949 in der DDR oder -  wie in den allermeisten Fällen – zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen Besatzungszone enteignet worden sind, Entschädigung und Ausgleich zu leisten? Die entsprechenden Modalitäten sind im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) vom 27. September 1994 enthalten.
 
Am 29. Juni 1995 haben einige der Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht angerufen und insbesondere geltend gemacht, die Bestimmungen dieses Gesetzes stünden in Widerspruch zum Grundgesetz, da sie im Allgemeinen die Zahlung von Beträgen vorsähen, die unter dem gegenwärtigen Verkaufswert der enteigneten Güter lägen. Am 22. November 2000 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Grundsatzurteil in dieser Sache verkündet und die Kläger abgewiesen. Auf dieses Grundsatzurteil nehmen nun auch diejenigen Beschwerdeführer Bezug, die an diesem Verfahren nicht beteiligt waren.
 
 
Beschwerdepunkte
 
Die beschwerdeführenden natürlichen Personen rügen, das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 und das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2000 verstießen gegen ihr Eigentumsrecht, wie es durch Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 (Schutz des Eigentums) zur Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird; denn die Ausgleichsbeträge, die sie erhalten haben, lägen weit unter dem tatsächlichen Wert ihrer unrechtmäßig enteigneten Güter.
 
Die Beschwerdeführer bringen ferner vor, sie seien Opfer einer Diskriminierung im Sinne des Artikels 14 (Diskriminierungsverbot) der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geworden; denn im Gegensatz zu anderen Personengruppen hätten sie kein Recht auf Rückerstattung der unrechtmäßig enteigneten Güter geltend machen können und hätten lediglich einen unerheblichen Ausgleichsbetrag erhalten.
 
Außerdem beanstanden diejenigen Beschwerdeführer, die das Bundesverfassungsgericht angerufen hatten, die Länge des Verfahrens vor diesem Gericht (vier Jahre und elf Monate in einem Fall, fünf Jahre und vier Monate im anderen Fall), mit der die angemessene Frist überschritten worden sei, wie sie in Artikel 6 Absatz 1 (Recht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist) der Konvention vorgesehen ist.
 
Die beschwerdeführenden juristischen Personen bringen die gleichen Beschwerdepunkte vor, wobei sie darauf hinweisen, dass sie nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 weder über ein Recht auf Rückerstattung ihrer Güter noch über ein Recht auf Ausgleich verfügen.
 
 
Verfahren
 
Die Beschwerden wurden am 3., 17. bzw. 18. Mai 2001 eingereicht. Am 29. Januar 2004 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
 
Am 11 März 2004 gab die für diese Rechtssache zuständige Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Rechtssache an die Große Kammer ab. Die Parteien haben nicht widersprochen [1].
 
 
Zusammensetzung des Gerichtshofs
 
Die Fälle werden von einer Großen Kammer geprüft, die sich wie folgt zusammensetzt:
 
Luzius Wildhaber (Schweiz), Präsident,
Christos Rozakis (Griechenland),
Jean-Paul Costa (Frankreich),
Georg Ress (Deutschland),
Lucius Caflisch (Schweiz) [2],
Riza Türmen (Türkei),
Karel Jungwiert (Tschechien),
Josep Casadevall (Andorra),
Bo‰tjan Zupanãiã (Slowenien),
John Hedigan (Irland),
Matti Pellonpää (Finnland),
Hanne Sophie Greve (Norwegen),
András Baka (Ungarn),
Rait Maruste (Estland,
Kristaq Traja (Albanien),
Elisabeth Steiner (Österreich),
Alvina Gyulumyan (Armenien), Richter,
Elisabet Fura-Sandström (Schweden),
Stanislav Pavlovschi (Moldau),
Vladimiro Zagrebelsky (Italien), Ersatzrichter,
und Erik Fribergh, Stellvertretender Kanzler.
 
 
Vertreter der Parteien
 
 
Regierung:                     Klaus Stoltenberg, Almut Wittling-Vogel, Prozessbevollmächtigte,
                                    Jochen Frowein, Richard Motsch, Rechtsbeistand,
                                    Hermann-Josef Rodenbach, Wolfram Marx, Berater;
 
Beschwerdeführer:        Thomas Gertner, Christopher Lenz, Wolfgang Peukert, Stefan von Raumer, Martin Nettesheim, Albrecht Wendenburg, Gunther Herr, Beate Rudolf, Winfried Schachten, Rechtsbeistand.
 
 
Einige der Beschwerdeführer werden ebenfalls an der Verhandlung teilnehmen.
 
Nach der mündlichen Verhandlung wird der Gerichtshof in nichtöffentlicher Sitzung  seine Beratungen aufnehmen.
 
 
 
Kanzler des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
F - 67075 Strasbourg Cedex
Pressekontakt: Roderick Liddell - Telefon: +33 (0)3 88 41 24 92
Emma Hellyer - Telefon: +33 (0)3 90 21 42 15
Stéphanie Klein - Telefon: +33 (0)3 88 41 21 54
Fax: +33 (0)3 88 41 27 91
 
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist 1959 in Straßburg von den Mitgliedsstaaten des Europarates gegründet worden, um über Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu urteilen. Die Zahl seiner Richter entspricht der Zahl der Vertragsstaaten der Konvention. Seit 1. November 1998 arbeitet er als ständig tagender Gerichtshof. In Kammern mit sieben Richtern oder in Ausnahmefällen in einer Großen Kammer mit siebzehn Richtern prüft er die Zulässigkeit und Begründetheit der bei ihm eingereichten Beschwerden. Die Vollstreckung seiner Urteile wird vom Ministerkomitee des Europarates überwacht. Nähere Informationen zum Gerichtshof und seiner Arbeit sind auf seiner Website zu finden.
 
 
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[1] Gemäß Artikel 30 der Konvention kann eine Kammer eine bei ihr anhängige Rechtssache jederzeit, bevor sie ihr Urteil gefällt hat, an die Große Kammer abgeben, sofern nicht eine Partei widerspricht, wenn diese Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung der Konvention oder der Protokolle dazu aufwirft oder die Entscheidung einer ihr vorliegenden Fragen zu einer Abweichung von einem  früheren Urteils des Gerichtshofs führen kann.
 
 
[2]  Für Liechtenstein gewählt

Berliner Zeitung

Donnerstag, 23. September 2004

Bodenreform, letzter Akt
Enteignete wollen Rückgabe oder bessere Entschädigung
Sigrid Averesch
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BERLIN, 22. September. Historische Ereignisse sind oftmals Zäsuren, die die Betroffenen nur schwer akzeptieren können. So ergeht es auch den einstigen Großgrundbesitzern im Osten Deutschlands, die in der Sowjetischen Besatzungszone mit der Bodenreform enteignet worden sind. Am Mittwoch wurde eine Klage von 70 Nachfahren der Alteigentümern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt. Sie wollen den früheren Familienbesitz zurück oder höher entschädigt werden.
In dem Verfahren geht es um zwei Abschnitte der deutschen Geschichte: die Nachkriegszeit und die Zeit nach der Einheit Deutschlands. Zwischen 1945 und 1949 wurden auf dem Gebiet der späteren DDR während der Bodenreform die Großgrundbesitzer enteignet. Unter der Parole "Junkerland in Bauernhand" konfiszierte die sowjetische Besatzungsmacht rund 7 000 Güter. Gut 40 Jahre später, bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, wurde im Einigungsvertrag vereinbart, diese Enteignungen nicht rückgängig zu machen. Stattdessen erhalten die Enteigneten einen Ausgleich, der jedoch weit unter dem Verkehrswert der Grundstücke liegt.
Diese haben wiederholt gegen die Regelungen geklagt. Doch das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen ihre Forderungen abgewiesen. Für die Alteigentümer ist der Europäsche Gerichtshof für Menschenrechte nun die letzte Chance. Völkerrechtswidrig seien die Enteignungen gewesen, betonten die Anwälte der Kläger am Mittwoch in Straßburg. Die Enteigneten seien damals für ihre Angehörigkeit zum "Besitzbürgertum" bestraft worden. Dieses grobe Unrecht habe die Bundesrepublik nie anerkannt, so die Anwälte.
Von Unrecht wollten wiederum die Rechtsvertreter der Bundesregierung nichts wissen. Im Einigungsprozess hätten die Abgeordneten der DDR-Volkskammer darauf bestanden, dass die Bodenreform unangetastet bleibe. Deshalb sei kein individueller Entschädigungsanspruch entstanden.
Mit dem Urteil wird erst in einigen Monaten gerechnet. Sachsen-Anhalts Finanzminister Karl-Heinz Paqué (FDP) warnte aber schon jetzt vor den finanziellen Folgen, sollten die Alteigentümer Recht bekommen. Es gehe um Milliardenbeträge, die vollständig vom Bund vollständig übernommen werden müssten. Denn einerseits handele es sich um eine Erblast der Nachkriegszeit, andererseits würden die Länder völlig überfordert. "Es würde uns ruinieren", sagte Paqué der Berliner Zeitung. "Es geht um Beträge, die die Vorstellungskraft strapazieren."
(mit ves./AFP)