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BOMBEN AUF AUSCHWITZ
Hundert Meilen und ein harte Frage
Von Hans Michael Kloth
Konnten oder wollten die Alliierten die Vernichtungsmaschinerie
in Auschwitz
nicht durch gezielte Bombenangriffe stoppen? Bisher richtete sich die Frage vor
allem an Briten und Amerikaner. Ein US-Historiker untersucht nun zum ersten Mal
die Rolle der Sowjets.
REUTERS
Britische Luftaufnahme des KZ Auschwitz vom 23. August 1944: Brennende Leichenberge
unter freiem HimmelAls die britische Keele University vor zwei Wochen ein Verzeichnis über
fünfeinhalb Millionen bisher unveröffentlichte Luftbilder aus dem Zweiten
Weltkrieg ins Internet stellte, schockierte vor allem ein Bild die Öffentlichkeit,
aufgenommen am 23. August 1944 aus mehreren tausend Metern Höhe: Deutlich
erkennbar zieht auf dem Foto eine weiße Qualmwolke über das Konzentrationslager
Auschwitz - verursacht durch brennende Leichenberge. Weil die Kapazität
der Krematorien nicht ausreichte, verbrannte die SS Tausende ihrer Opfer unter
freiem Himmel in riesigen Gräben.
"
Warum wurden die KZ-Schergen nicht bombardiert?", entrüstete sich die
Bild-Zeitung angesichts der Belege für das Wissen der Alliierten. "Hätte
die Royal Air Force den Gräueln von Auschwitz vor der Zeit ein Ende bereiten
können?", fragte auch die "Frankfurter Rundschau". Und der "Guardian" spekulierte
gar, dass die Veröffentlichung dieses Bildbeweises Hunderttausende Leben
hätte retten können.
Wollten die Alliierten Auschwitz also vielleicht gar nicht
bombardieren? Die
Entdeckung des Fotos der britischen Aufklärungsflieger hat eine Diskussion
neu belebt, die Überlebende, Historiker und selbst Politiker immer wieder
umtreibt. Denn bis Kriegsende griffen die Alliierten nicht ein einziges deutsches
KZ gezielt aus der Luft an - obwohl sie, wie nicht nur die Luftbilder im Archiv
der Uni Keele belegen, über den Genozid an den Juden detaillierte Informationen
besaßen.
"
Alles, was getan werden musste, war, die Bahnlinien zu bombardieren", klagte
denn auch bei einem Besuch in Auschwitz im April 1998 der damalige israelische
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu öffentlich - eine Forderung, die
jüdische Organisationen schon im Mai 1944 an die Regierungen in Washington
und London gerichtet hatten.
Bombenabwurf Pi mal Daumen
AP
Einsatz der U.S. Air Force: Nur eine von fünf Bomben traf das Ziel
Dass
die
Alliierten aus zahlreichen Quellen vom Völkermord der Nazis bereits früh
wussten, ist längst erwiesen. So hatte Gerhard Riegner, Funktionär
des jüdischen Weltkongresses in Genf, im August 1942 nach Washington gemeldet,
dass die europäischen Juden "auf einen Schlag vernichtet" werden
sollten. Nach London gelangte im November Jan Karski, ein polnischer Offizier,
der vom polnischen Untergrund zuvor in das Warschauer Ghetto und in die Nähe
des KZ Belzec geschmuggelt worden war. Und im Oktober hatte der später hingerichtete
deutsche Diplomat Rudolf von Scheliha, als Referent für die Abwehr alliierter "Gräuelpropaganda" über
deutsche Verbrechen in Polen im Bild, über einem Mittelsmann beim Internationalen
Roten Kreuz in Genf den dortigen US-Konsul warnen lassen.
Umso heftiger wird angesichts dieses Wissens über die Motive für die
Untätigkeit von Briten und Amerikanern gestritten. Griffen sie nicht ein,
weil ihre Regierenden klammheimliche Antisemiten waren, ihnen das Schicksal der
Juden zumindest nicht besonders am Herzen lag, wie manche meinen? Oder war es
militärisch unmöglich, die Vernichtungslager auszuschalten, wie andere
glauben?
Klar ist, dass ein Angriff auf Auschwitz alles andere als einfach gewesen wäre.
So war die bevorzugte Kampftaktik der britischen Royal Air Force das Flächenbombardement
bei Nacht - keine viel versprechende Methode, um gezielt Gaskammern in einem überbelegten
Lager auszuschalten. Und das "precision bombing", welches die Amerikaner
bereits damals praktizierten, hatte mit der Zielgenauigkeit heutiger Marschflugkörper
nichts gemein; die 15. U.S. Air Force, die einen Angriff auf Auschwitz wohl geflogen
hätte, traf gerade mal mit einer von fünf Bomben einen Kreis von 180
Metern um den Zielpunkt.
Roosevelts Angst vor toten Juden
Dennoch hätten die Alliierten eingreifen können. Angriffe auf die Bahnstrecken, über
die die Deportationszüge rollten, hätten die menschenfressende Maschinerie
der Nazis wohl nicht gestoppt, aber zumindest aufgehalten. Und auch ein direktes
Bombardement von Gaskammern und Krematorien wäre möglich gewesen -
doch hätten die Alliierten dabei viele Opfer unter den Lagerinsassen riskiert.
So zerstörten am 24. August 1944 - einen Tag, nachdem ein britischer Aufklärer
das nun aufgetauchte Auschwitz-Foto schoss - 129 US-Bomber in einem Präzisionsangriff
eine unmittelbar an das KZ Buchenwald grenzende Rüstungsfabrik; ihren Bomben
fielen allerdings auch 315 Häftlinge zum Opfer.
DER SPIEGEL
Grundriss des KZ Auschwitz ISo ein Szenario aber war wenig nach dem Geschmack
von US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Tote Juden durch US-Bomben würden
von der Nazi-Propaganda weidlich ausgeschlachtet werden, so die Befürchtung
des Präsidenten, der sich im November 1944 zum vierten Mal ins Weiße
Haus wählen lassen wollte. Das Morden lasse sich ohnehin nicht unterbinden,
glaubte Roosevelt: "Alles, was die Nazis tun werden, ist, das KZ nur ein
kleines Stück die Straße hinunter zu verlegen", soll FDR die
Idee einer Attacke auf Auschwitz weggewischt haben, wie John McCloy, damals Unterstaatssekretär
im US-Kriegsministerium, einem erst vor zwei Jahren aufgetauchten Tonband anvertraute.
Hinzu kam, dass durchaus nicht alle jüdischen Organisationen für einen
Angriff auf die Lager waren. Der Vorstand der Jewish Agency etwa beschloss am
11. Juni 1944 ausdrücklich, "den Alliierten nicht vorzuschlagen, Orte
anzugreifen, an denen sich Juden aufhalten". Lesen Sie in Teil 2, wie Stalin
die ungarischen Juden im Stich ließ
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