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MECKLENBURG-VORPOMMERN
Ein Sommer in höchsten Tönen
Klassik unter freiem Himmel, in Schlössern, Scheunen und Kathedralen
macht das Musikland Mecklenburg-Vorpommern zu einem der attraktivsten Schauplätze
europäischer Festivals.
DDP
Landesgestüt Redefin: Kein Platz in Mecklenburg-Vorpommern, der sich
nicht in einen Konzertsaal verwandeln ließeLena hat die Augen geschlossen.
Selbstversunken, weggetreten, in einer anderen Welt, konzentriert sie sich
auf das Liebesspiel mit ihrem Instrument. Schatten von Glück huschen
über ihr Gesicht, ein Anflug von Schmerz, Momente der Ekstase. Man fühlt
sich wie ein Voyeur, gefangen und fasziniert von der Intimität dieser
Szene, entführt, entrückt in die Traumsphären einer jungen
Geigerin, die ihre rund 260 Jahre alte Guadagnini singen lässt. Und Tobias
Stork, der Mann am Klavier, souverän und stark, sensibel und zart, findet
den Ton, der diese Beziehung spannend und glücklich macht. Zum Applaus
stehen sie da, lächeln wie aus Trance erwacht in den Marmorsaal im Jagdschloss
Granitz.
Lena Neudauer, 1984 in München geboren, hat mit drei Jahren Geige gelernt,
mit sechs Klavier, und mit zwölf, sehr spät, findet sie, ist sie
auch noch zu Rhythm and Blues gekommen. Heute zählt die profilierte Violinistin
und Pianistin zum musikalischen Nachwuchs, ohne den die Festspiele Mecklenburg-
Vorpommern nicht denkbar wären, die junge Elite, Solisten am Start einer
internationalen Karriere, oft schon, wie Lena, vielfache Preisträgerin,
von Auszeichnungen verwöhnt und doch ohne die Bodenhaftung zu verlieren.
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Zum zweiten Mal sind die beiden in Mecklenburg-Vorpommern. Sie finden es hier
sehr, sehr schön. "Dieses Meer-Insel-Urlaubsgefühl ist schwer
zu ignorieren", sagt Lena. Aber es hilft nichts. Sie üben viele
Stunden, konzentrieren sich auf das schwierige und anspruchsvolle Programm,
die Regensonate von Brahms, die g-Moll-Sonate von Debussy und die Kreutzer-Sonate
von Beethoven. Das Jagdschloss Granitz liegt in 1000 Hektar Wald verborgen,
nur der Aussichtsturm von Schinkel ragt weit über die Wipfel hinaus,
145 Meter über dem Meeresspiegel. Die Sehenswürdigkeit lockt im
Jahr 300.000 Besucher an und ist nur eine der mehr als 50 Spielstätten
im Land der Meere und Seen, das sich stolz Musikland nennt und mit seinen
Festivals einen bunten Teppich hochkarätiger Musikveranstaltungen ausgelegt
hat. "Das Musikland Mecklenburg-Vorpommern ist ein Zukunftsmodell in
unserer Kulturlandschaft", verkündet Bildungsminister Prof. Dr.
Peter Kauffold stolz.
Das Konzept ist einfach: Klasse statt Kasse
Musik ertönt in Schlössern, Kirchen und Scheunen. Das Landgestüt
Redefin lädt zum Picknick-Pferde- Sinfoniekonzert mit Hengstvorführung,
die Seebrücke Sellin zum A-capella-Gesang über dem Meer. Feuerwerksmusik
in Ludwigslust, Haydnspaß im Kloster, Blumenwalzer im Burggarten und
Preisträgerkonzerte in der Festspielscheune. High fidelity, wohin man
hört. In Kursaal und Kuhstall, Seemannskirche und Peenewerft, kein Platz
in Mecklenburg-Vorpommern, der sich nicht in einen Konzertsaal verwandeln
ließe. Längst hat der Pollenflug der Festivalitis auch das benachbarte
Polen erfasst, führt die Konzertreihe Concerto Pomerania hinter die Grenze,
nach Szczecin (Stettin), Kolobrzeg (Kolberg) und in den Dom von Kamie
Pomorski (Cammin). Und im schlesischen Kryzowa (Kreisau) fand sich eine Scheune
fürs deutsch-polnische Zusammenspiel.
DDP
Festspiele Mecklenburg-Vorpommern: In Redefin dirigierte Kent Nagano 2001
das Deutsche Sinfonie-Orchester Berlin (Archivbild)Das Konzept der Festspiele
Mecklenburg-Vorpommern ist einfach: Klasse statt Kasse. Junge Elite trägt
das größte der Festivals, Absolventen der Hochschulen, Wunderkinder
im Reifestadium, hochbegabte Virtuosen in der Startphase, viele von ihnen
Preisträger großer europäischer Wettbewerbe. Sie verlangen
noch nicht die Gagen internationaler Stars, stehen für Frische des Spiels
und unkonventionellen Zugang zu den Meisterwerken der Musik. "Die Festspiele
haben einen guten Riecher dafür, junge Künstler aufzuspüren,
kurz bevor sie die Podien der Welt erobern", kommentiert Christiane Irrgang,
NDR-Redakteurin. "Hinter den Kulissen ist das eine gigantische Schinderei"
Der Sender profitiert von den hochkarätigen Programmen. Doch es kommen
auch Dirigenten wie Kent Nagano, Leonard Slatkin oder Herbert Blomstedt mit
ihren Orchestern in die musikalische Sommerfrische, die Bremer Kammerphilharmonie
und das Bundesjugendorchester reisen an, und mancher Weltstar. "Selten
bin ich Konzertbesuchern so nahe gewesen" resümiert die Geigerin
Anne-Sophie Mutter. Die Mischung aus Picknick und hochklassiger EMusik erinnert
sie an das britische Festival Glyndebourne. "Hinter den Kulissen ist
das eine gigantische Schinderei", seufzt Dr. Matthias von Hülsen,
"ein hartes Business, immer auf den Knien auf der Suche nach Sponsoren,
die Geldnot immer knapp an der Gurgel." Der Kinderarzt und Ziehvater
der Festspiele wurde früh mit dem Vitamin E-Musik geimpft. Er wuchs gemeinsam
mit Justus Frantz im holsteinischen Tesdorf auf; auf dem Nachbargut lebte
der junge Christoph Eschenbach.
DDP
Hotel Burg Schlitz: Besonderes Konzertambiente im neogotischen Rittersaal
mit Spitzbögen und originalem IntarsienfußbodenSo was prägt.
Der Doktor wurde zum Landarzt der Musik. Er organisierte in den Achtzigern
fürs Schleswig-Holstein Musik Festival die Musikfeste auf dem Lande und
brachte nach der Wende, gemeinsam mit Justus Frantz, Mecklenburg-Vorpommern
zum Klingen. 1990 hoben Chor und Orchester der Ludwigsburger Festspiele, mit
Lothar de Maizière (Bratsche), Justus Frantz (Klavier) das Festival
aus der Taufe.
Doch als sich die Großsponsoren, Deutsche Bank, Veba und Volkswagen
nach der ersten Einheitseuphorie diskret zurückzogen, blieben von den
drei Millionen Mark zum Start gerade mal 250.000. Es begann die Mühsal
der Ebene, das Angraben, Betteln, Baggern ohne Ende. Heute besorgen die Arkona
Hotel AG, A'Rosa (Lust auf Schiff), und Lübzer (Brauerei), Skoda Auto
Deutschland und Nord/LB, Sparkassen und Betriebe wie die Immer gut Dauermilch
GmbH das nötige Kleingeld, bilden die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach
Stiftung, die Kulturstiftung der Deutschen Bank, Jürgen Ponto-Stiftung
und Deutsche Stiftung Musikleben (Könner brauchen Gönner) ein hilfreiches
Netzwerk. Der Staat trägt rund 20 Prozent der Kosten, und die Gäste
zahlen immerhin an die 550.000 Euro.
Der ideale Ort für Mozart in Freilandhaltung
Sponsoren vergeben Musikpreise für den viel versprechendsten Solisten
und das viel versprechendste Ensemble. Die so Geehrten kommen gern wieder.
Die Auftritte der Geigerinnen Julia Fischer, Tanja Becker-Bender und Viviane
Hagner, des Cellisten Daniel Müller-Schott, des Pianisten Jonathan Gilad
und des Trompeters Gábor Boldoczki zählen längst zu den Highlights
des Festivals. Die Pionierzeit ist überwunden. Ende 2002 wechselte Matthias
von Hülsen vom Sattel in den Sessel, wie er sagt, ist nun Aufsichtsratsvorsitzender
der Festspiele und gab die Leitung in jüngere Hände. Lerchen singen,
Libellen flitzen, ein Krähenschwarm krächzt. Im Barockgarten von
Schloss Bothmer in Klütz lagern Familien neben offenen Picknickkoffern,
Rotkäppchensekt perlt in mitgebrachte Gläser und unter dem Laubdach
spätbarocker Baumriesen mischen sich die Aromen von Wiesenblumen, Räucheraal
und Spanferkel mit den High-End-Produkten der Wiener Klassik.
Schloss Bothmer ist der ideale Ort für Mozart in Freilandhaltung. Eben
hat Justus Frantz noch den Unterschied zwischen C- und F-Dur erklärt;
nun decantiert er eine feine Spätlese aus dem Köchelverzeichnis,
lässt die Noten nur so aus dem Flügel schweben, und die Philharmonie
der Nationen schwingt sich mit heiteren Tönen ins Landleben des Klützer
Winkels. Ein paar Tage später. Blaue Stunde in Binz auf Rügen. Kalt
ist der Abendhauch. Die Sonne ist, typisch für Mecklenburg-Vorpommern,
nach Westen abgewandert. Auf dem Platz vor dem Kurhaus drängen sich Menschen,
junges Volk, aber auch graue Köpfe, achtundsechziger Fusselbärte.
In der Kurmuschel gibt es Weber, nicht Carl Maria von, sondern Vince. Der
lässt den Boogie über die Tasten rollen, singt mit heiserer Stimme,
tiefschwarz und gefühlsecht. Vince Weber, "the Boogie Man",
Nachtschattengewächs und lebende Legende: weißes Haar über
grünen Augen, Nietzsche-Schnauzer. Der Groove fährt wie der Wind
ins Publikum. Unruhe, ein Zittern und Vibrieren. Plötzlich bricht es
los, hotten die Alten auf poliertem Granit, rocken und tanzen. Die Jugend
bleibt cool, nachsichtige Milde im Blick. Blue Waves im Musikland Mecklenburg-Vorpommern.
Ein Sommernachtstraum am Meer. Von Emanuel Eckardt
Aus dem Merian-Heft "Mecklenburg-Vorpommern - Die Küste", Februar
2003
IN SPIEGEL ONLINE IM INTERNET
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(05.09.2001)
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ANGRIFF AUF FLÜCHTLINGSLAGER
Israelis töten mindestens 13 Palästinenser
Israel übt massive Vergeltung für den jüngsten Bombenanschlag
in Haifa: Bei einem Militärangriff auf das Flüchtlingslager Dschabalija
wurden nach Angaben palästinensischer Krankenhäuser mindestens 13
Palästinenser getötet und mehr als 100 verletzt.
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06. März 2003
Exklusiv Bushs Krieg
Donnerstag, den 6.März