------------------------------------------------------------------------
Freitag, 30.05.2003 KULTUR_MEDIEN KURIER 29
------------------------------------------------------------------------
Das Gedankenkraftwerk läuft auf Hochtouren
KRITIK Einar Schleefs "Gertrud. Ein Totenfest" im Kasino am Schwarzenbergplatz
Als "Kraftwerk" hat Elfriede Jelinek den 2001 verstorbenen Autor, Bühnenbildner und Regisseur Einar Schleef einmal bezeichnet. Ein Kraftwerk auf und hinter der Bühne und in der Sprache, das unbändig Strom produziert. Auch in dem monumentalen Prosa-Text "Gertrud", den Einar Schleef mit dem Zusatz "Ein Totenfest" versehen hat.
Für das Berliner Ensemble und das Wiener Burgtheater - Berlin hatte das "Recht der ersten Nacht" - haben sich die Schauspielerin Edith Clever (sie fungiert auch als Regisseurin) und Dieter Sturm durch tausende Seiten Text gewühlt und Schleefs Hommage an seine Mutter auf die Bühne gestemmt.
Ein Tisch, zwei Stühle, der Pappelbaum, unter dem Gertruds Mann Willy saß, eine Treppe, drei Kreuze und ein erdiges Grab - Thomas Gabriel verwandelt das Kasino am Schwarzenbergplatz in den kleinen Ort Sangerhausen am Fuß des Kyffhäusers.
ZEITENWENDEN Im Arbeitskleid (Kostüm: Silke Schneider) durchlebt Schleefs Mutter noch einmal das Ende des Kaiserreiches, die auf wackligen Beinen stehende Republik, die Machtergreifung Hitlers, den Krieg, die Teilung Deutschlands und den Alltag im "sozialistischen Arbeiter-und Bauernstaat" DDR.
SPRACHARTISTIN Der Mann stirbt früh, die erwünschte Tochter wird nie geboren, die beiden Söhne (auch Einar) werden zu "Republiksflüchtlingen" erklärt - unter der Aufsicht Friedrich Barbarossas wartet Gertrud auf den Tod, auf das endgültige Fallen. Doch der Körper verrottet nur sehr langsam.
Dass Zeit aber sehr relativ sein kann, beweist Edith Clever. Wie diese Sprachartistin Schleefs massive Wortgebilde, Gedankentrümmer, Satzteile hervor stößt und die Seele zum Klingen bringt, ist einzigartig. Zweieinhalb Stunden flüstern, greinen, träumen, flöten, spucken, aufbegehren - Edith Clever zieht alle Register ihres Könnens.
Perfekt in Mimik und Gestik - die wenigen, klug eingesetzten Bewegungen suggerieren auch die Stationen des (inneren) Verfalls - zeichnet Clever das Psychogramm einer tragischen Existenz.
Und: "Die" Clever flirtet. Mit den Worten und mit Einar Schleef, dessen "Kraftwerk" so wieder auf Hochtouren läuft. -Peter Jarolin
[BILD] MATTHIAS HORN
[BILD] Edith Clever brilliert als Einar Schleefs Mutter Gertrud
 
Quelle: http://kurier.at/archiv/
Eine wie Einar.
Mit dem Schleef-Solo "Gertrud. Ein Totenfest" feiert die Schaubühnen-Heroine Edith Clever die Kunstfertigkeit einer untergehenden Theaterwelt: ein betörender Abend im Kasino am Schwarzenbergplatz.
Ronald Pohl
Wien - In Sangerhausen, in Sichtweite des thüringischen Kyffhäuser, wo die deutsche, demokratische Industrieschlacke in Kegeln aufgetürmt liegt, da liegt ein Hain. Da steht ein dürrer Pappelbaum, an seinem Fuß ein Bänkchen; da liegt ein sauber geharktes Kiesfeld, das ein Grab aus frischer Erde kalt umfriedet.
Hinter einem schwarzen Nebelschleier steht, den Rücken zum Publikum des Kasinos gekehrt, "Gertrud": ein schmaler Schatten, dessen Arme wie Äste die finstere Nacht durchschneiden. Edith Clever, die köstlichste aller Berliner Schaubühnen-Heroinen, ein Kind aus Wuppertal, ist im Einar-Schleef-Land für zweieinhalb Stunden gestrandet wie auf einem verwunschenen Eiland.
Ein sehrender, ziehender Schwall entquillt ihrem wortübermächtigen Mund, ein behändes Bedeutungswispern und quälendes Zauberraunen - und plötzlich ist Schleefs (1944-2001) kurzatmiges Satzbrocken-Weitwerfen, gesammelt in zwei Bänden Gertrud zu insgesamt 900 Seiten bei Suhrkamp in Frankfurt am Main, ganz grazil und kyffhäuserisch weltmächtig.
Ein Weltwahnwitz, weil der Zyklop Schleef seiner zarteren, aber umso zäheren Mutter sozusagen geschickt-unschicklich (zu) nahe trat: sie unverschämt einwickelte in einen Wörterkokon, den er ihr obendrein noch zum Abschmecken in den Mund legte.
Eine alte Witwe, deren "Willy" unter der Pappel liegt, deren Buben wenigstens nach Berlin davongerannt sind, hält Inventur: verzeichnet ihre Trauer, ihren unweigerlich bitteren Geschmack im Mund.
Sie sitzt an einem Tisch, auf einem viel zu kostbaren Teppich und zählt am Arm die Muttermale: als wäre ihre lederne, ausgezehrte Haut ein gestirnter Himmel.
Die Augen schmal geschnitten, den Mund gespitzt wie zu einem Erbrechen - aber es purzeln nur Kleinodien aus diesem unentwegt singenden, angstklirrenden Wesen, das die dünnen Haare zurückgebunden trägt, den schmutzstarrenden Arbeitskittel anfasst wie eine Zaubertuchbahn. Und seiner eigenen, vom Alterswahnsinn gezeichneten Verklärung entgegenschwebt wie einer unglaublichen, untraulichen Sterbensglücksverheißung.
Zu handeln ist vom vielleicht makellosesten Abend einer insgesamt doch arg durchwachsenen Burg-Saison - dem rücksichtslosen Umbiegen von Schleefs tönender Manie in ein unendlich verzärteltes, hochverfeinertes, zu Tode sublimiertes Kunstgewerbetreiben.
Das mutet vielleicht so fremd an wie ein Besuch in der Nasa-Raumfahrtzentrale - ist aber nur das geraffte und getragene Vermögen einer Kunst, die wohl unwiderruflich im Abendrot steht. Die mit diesem Solo, das Dramaturg Dieter Sturm in Koproduktion mit dem Berliner Ensemble eingerichtet hat, in einen gähnenden Kunstabgrund hinabstürzt. Nicht ohne den beklommenen Zuhörer kopfüber hinterherzustürzen. So süchtig macht, für gewitterschwüle Augenblicke lang, diese vergleichslose, in keinerlei "Diskurs" und keinem soziogrammatischen Kauderwelsch seicht wurzelnde Vergegenwärtigungskunst.
Zum Schluss der Totenrede aber lädt Gertrud die Tochter, die sie sich gewünscht, aber niemals bekommen hat, an ihre kärgliche Königin-Witwentafel. Die Stafettenübergabe dieser unvergleichlichen Wortwirkungskunst steht noch aus.
Quelle: Der Standard, 31 May 2003
Kraft auf leisen Sohlen.
"Gertrud. Ein Totenfest" von Einar Schleef im Kasino des Burgtheaters: Zu Saisonende ein theatralisches Feuerwerk auf kleinstem Raum.
Edith Clever solo in Halbdunkel. Dann angedeutete Örtlichkeiten im Licht: Rasen, darin ein Sandrechteck wie ein Grab, eine Wohnküche, eine Treppe. Figur und Stimme: unfassbar! Eine Enzyklopädie fast aller Möglichkeiten von klassisch-dramatischer Artikulation, Mimik, Gestik führt Clever über zwei Stunden lang vor. Sie ist Klytaimnestra, Gretchen im Kerker, Mutter Wolffen aus dem "Biberpelz", Mutter Grusche aus dem "Kreidekreis" - und alles in allem Mutter "Gertrud". Diese Klitterfigur aus einer armseligen Menschennatur und ebendiese für alle Zeiten bewahrenden Kunst erzählt ihre Historie und ihre Gefühle in der Ich-Form. Textmassen! Viele Zuhörer wirkten am Premierenabend überfordert (Ich gestehe: Ich war es auch). Nicht aber die ranke Dame auf der Bühne mit ihren vielen Gesichtern. Sie exekutiert anscheinend mühelos ihr Riesenpensum Tragödinnen-Virtuosität, wie sie im Burgtheater zuletzt Annemarie Düringer vorgeführt hat. Nicht nur Schauspielschüler sollten hinrennen. Im Berliner Ensemble bei Peymann lief "Gertrud" erfolgreich seit September. In Wien war die Tribüne am ersten Abend noch blamabel schütter besetzt. Vielleicht weil das Thema so ferne dünkt. Vorkriegszeit, Nazizeit, Krieg, sowjetische Besatzungszone, DDR: die Tragödie der deutschen Durchschnittsfrau im deutschen Jahrhundert. Gertrud Schleef lebte an einem mythenträchtigen Ort: am Fuße des Kyffhäusers, nahe der einstigen Reichsburg Kuffhausen; auch im Kyffhäuser schläft Kaiser Barbarossa, nicht nur im Untersberg, wissen die Sagen. 1993, im wiedervereinten Deutschland, ist Einar Schleefs Mutter gestorben. Im Familienroman "Gertrud" (der erste Band erschien 1980) reflektierte der vor zwei Jahren verschiedene Dichter, Regisseur und Schauspieler seine belastete Zwangsbindung. Er kehrte 1976 der DDR den Rücken - und nahm so Frau Schleef die Hoffnung, ihren Sohn wiederzusehen. Man kann "Gertraud" als Vorhalt eines außerordentlich geratenen Sohns gegen seine Mutter interpretieren und zugleich als Liebesakt. In Clevers Einstudierung ist Schleefs Prosa als gebundene Rede zu begreifen, als Riesenpoem in freien Versen. Trotz Strukturierung in über 30 "Strophen" dauert es schier endlos. Alle diese Strophen enden in Zeilen so stark wie Gongschläge - von "Deutschland kaputt. Mit Adolf fällig ..." bis "Schlaf hier, ich verschwinde ganz leise".
Quelle: 30 May 2003
Die Presse
"Höher. Kippe. Mensch."
Edith Clever, eine der letzten großen Heroinen des deutschsprachigen Theaters, hat heute Abend mit dem Einar-Schleef-Monolog "Gertrud" im Kasino am Schwarzenbergplatz Premiere. Versuch einer Annäherung an eine untergehende Form der Kunstausübung.
Ronald Pohl
Wien - Im thüringischen Sangerhausen, einem schlackenschwarzen DDR-Provinzkaff mit unebenen Kopfsteinen, genießt man eine sagenhafte Aussicht auf den Kyffhäuser. In dessen Innerem sitzt, einer Legende zufolge, der Kaiser Barbarossa und lässt seinen Bart um den Tisch herumwachsen. Man müsste in den Kyffhäuser hineinschauen.
Wie viel schwerer ist es aber, in den Kopf einer San ger hausenerin hineinzuschauen, in den Sturschädel von "Gertrud", der Mutter des maßlos genialen Eigenbrötlers Einar Schleef, dem 2001 jählings verstorbenen Gottseibeiuns des Sprechtheaters.
Der Mitte der 70er-Jahre aus der DDR in den Westen übersiedelte Schleef ließ bereits die ersten von ihm gedrillten Chöre brüllen, als er den zweiteiligen Roman Gertrud veröffentlichte: eine unnahbare Prosageröllhalde, bewegt von der (fiktionalen) Zunge der leiblichen Mutter; Sätze wie Binnenkriegserklärungen an eine schwer erträgliche Lebenswelt: "Betten übereinander. Reicht. Na noch das Kopfkissen. Der Unterrock klebt. Ausziehen. Mich hinlegen, langsam die Beine hochschieben. Höher. Kippe. Mensch."
Zweierlei Welten
Es scheint zunächst kaum verständlich, dass ausgerechnet die überfeinerte Sprechdarstellerin Edith Clever dieser betörenden, verstörenden Zyklopensprache Stimme wie Ausdruck leiht. Eine von Edith Clever in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Dieter Sturm erstellte Sprechfassung hat ab heute im Kasino am Schwarzenberg als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble Premiere: Gertrud. ein Totenfest (20 Uhr).
Doch Ausdruck reicht bei weitem nicht hin. Bei Frau Clever, dem Schaubühnen-star, müsste man von "Antlitz" sprechen, von "Durchgeistigung". Ihr Antlitz von herber Schönheit ruht unverwandt auf dem Fragesteller, wenn der ihre Annäherung an Schleef ergründen möchte.
"Die Aneignung eines solchen in der Tat ungewöhnlichen Textes", hebt Clever an, "geht nur über eine gewisse Faszination, die man beim Lesen entwickelt. Es ist für mich ganz große Literatur: expressionistisch und stark an diese Landschaft gebunden - die Figur seiner Mutter, die dort ganz und gar verwurzelt war." Nun hatte Schleef seinerseits aus dem Roman einen "Monolog für Frauenchor" gezimmert: "Da war unsere Fassung schon fertig", erzählt Clever.
Er habe in seinem Dramatisierungsversuch "eine ähnliche Spur gelegt: diese Trauerarbeit, die Einsamkeit dieser Frau. Das kam meinem Interesse entgegen, mich mit Alter und Zerfall zu beschäftigen."
Nun hat Edith Clever in kongenialer Zusammenarbeit mit Regisseur Hans-Jürgen Syberberg den Sprachhimmel erleuchtet, mit Kleist, mit Hölderlin: nur auf das makellose Tönen ihres unendlich modulationsfähigen Organs gestützt. Eine hohe, schmale Priesterin, allein in deutscher Nacht, Schätze der Literatur ausbreitend wie Musselin. Die Vorwürfe der Apotheose "unseliger deutscher Denkungsart" kamen erwartbar.
Nun zündet sich Frau Clever eine Zigarette an: "Schleef kannte die Arbeiten von Syberberg und mir." Sie verengt ihre Augen. Man muss an eine Katze denken, und es fällt einem ein, dass sie ja in Salzburg die Cleopatra "gab".
Clever weiter: "Er konnte viel damit anfangen - sprachlich." Man grüßt - von einem Spitzenkunstgipfel (Syberberg) zum nächsten (Schleef).
Heute denkt Clever nicht ohne eine gewisse Bitterkeit daran, dass "nur mehr die Jugend" zählt: "Wer so wie ich höchst erfolgreich inszeniert hat - dem liefe man doch jetzt das Haus mit Angeboten ein!" Jetzt wird sie halt eine feste Gastprofessur an der Universität der Künste in Berlin angenommen. Kunst kann man überall produzieren. Clever: "Wenn man mich nicht will, muss ich es anders machen." Jugend. Ach.
Und Einar Schleef ist auch schon wieder zwei Jahre tot.
Quelle: Der Standard, 29 May 2003

Wien Premiere Gertrud/Einar Schleef/Edith Clever