03.06.2003
Unsere kleine Farm
Hans Jürgen Syberberg zeigt im Pariser Centre Pompidou Einsichten aus der Welthauptstadt Nossendorf  Der Syberberg’sche Größenwahn dürfte am meisten durch die Entdeckung gefördert worden sein, dass Hans Jürgen Syberberg ein Nazi sei. 1990 schloss ihn die Frankfurter Allgemeine wegen Rechtsabweichung aus der Gemeinschaft der denkenden Menschen aus („Wo über Kultur gesprochen wird, hat Syberberg nichts mehr zu suchen“). Syberberg tat wie geheißen, zog sich zurück und grollte nur umso verkannter. Und wirklich gibt es herrlich zitable Syberberg-Sätze: „Denn als wir alles zusammennahmen, alle unsere letzten Kräfte der Phantasie, war es möglich, eine ganze Welt zu erobern, fast, bis nach New York, über Paris und London, fast, und Rom, wo sie durchkamen, die Hitlers, viele Jahre, unfassbar heute.“
Unfassbar, aber nicht unmöglich, denn wenn nicht Hitler, so ist doch wenigstens Syberberg diese Welteroberung mittels diverser Goetheinstitute und internationaler Kulturvermittler gelungen. Ganz ohne Kollaborateure käme allerdings auch die außenseiterischste Subventionskultur nicht über die weite Welt.
In New York hat ihn zum Beispiel die beizeiten ganz schön verrückte Susan Sontag in den weltlichen Himmel erhoben. Sie feierte Syberbergs „Hitler – Ein Film aus Deutschland“ (1977) nicht etwa als wahrscheinlich längstes Praliné der Welt („Für einen Stoff wie Hitler sind sieben Stunden eigentlich gar nichts“), sondern wirklich und wahrhaftig als den „viel-leicht größten Film aller Zeiten“.
Derlei transatlantisches Gedumms tut dem Film-Schöpfer entschieden zu wenig Ehre an, denn das Kunststück ist schon der Syberberg selber. Auf seiner Welttournee gastiert das wahrscheinlich größte Gesamtkunstwerk derzeit in Paris. Hier kippt ein begnadeter Irrer sein Archiv aus, nennt es wahrscheinlich insgeheim seine Perlen, die er, wie so oft schon, den Säuen vorwirft. Die armen Franzosen! Als ächzten sie nicht schon genug unter dem teutonischen Stiefel, als hätten sie nicht schon Fassbinder, Heiner Müller, Thomas Bernhard und den unheilvoll knarzenden Niedersachsen Ernst Jünger tapfer ertragen, müssen sie jetzt auch noch eine ganz besonders unsinnliche Recherche ins Mecklenburg-Vorpommer’sche erleben.
Karl May, Hitler, Wagner
Die Ausstellung „Syberberg/Paris/Nossendorf“ besteht, quelle surprise, aus nichts anderem als Hans Jürgen Syberberg. Er hat, wie viele ältere Männer, das Internet als Spielzeug entdeckt und die Wände vollgeklebt mit verschnittenen Ausdrucken seiner Website, die überraschenderweise www. syberberg.de heißt. Auf einem Bildschirm ist überdies der gesammelte Schriftverkehr Syberbergs mit der verachteten Außenwelt nachzulesen; wer sich je mit ihm schrieb, ist womöglich schon in das unendlich sich fortzeugende Kunstwerk Syberberg integriert.
Es beginnt, woanders, im pommerschen Nossendorf, wo Syberberg 1935 als Sohn eines Gutsbesitzers geboren wurde. Sein Vater war bereit, sich mit den Machthabern der sowjetischen Besatzungszone zu arrangieren, verschenkte, wo ohnehin nichts mehr zu retten war, die Liegenschaft an die Landarbeiter. Das war ein Fehler, der Sohn muss dafür büßen, und der lässt es wiederum die Zu- schauer entgelten.
Auf seine unbeholfene Weise schreibt Syberberg einen komplizierten Familienroman mit mehrfachen Scheidungen, doppeltem Mutterverlust, mit Umzügen und frühen Glückserfahrungen. Irgendwann packt ihn der Größenwahn, verstrickt sich der Pommer in das jugendirre Labyrinth aus Karl May, Hitler und Wagner und wird ein bisschen weltberühmt und verteufelt. Das ist bei verkannten Künstlern so Vorschrift, und damit es ja keiner vergisst, sorgt Syberberg immer dafür, dass ein besonders intensiver Scheinwerferkegel auf seine ganz besondere Medienabstinenz fällt.
Nach der Wende keimt die literarische Hoffnung, das verlorene Nossendorf, das in der Erinnerung immer paradiesischer, immer proustischer geworden ist, zurückzugewinnen. Syberberg lernt Behördenwillkür und mafiotische Umtriebe in Mecklenburg-Vorpommern kennen, dokumentiert Enteignungsunrecht und Vorgeschichte, entwirft eine Fahne fürs väterliche Gut und – ganz besonders rührend – zelebriert sich bei einer Weihnachtsfeier im einzigen renovierten Zimmer des Vaterhauses als Patron im Kreise seiner Instandsetzungsmitarbeiter incl. Baby und Christbaum.
Allein, Nossendorf ist ohne Syberbergs Weltpläne undenkbar. Joe Hembus bemerkte schon vor über zwanzig Jahren, dass Syberberg eine Doppelexistenz führe: „HJS, der geniale Filmschöpfer, ein Kunstriese, und HJS als sein eigener Mythograph, ein kleinbürgerlicher Zwerg, der mit seinem Mäppchen voll guter Zeugnisse über den Kunstriesen herumläuft, getrieben von der panischen Angst, jemand könnte vergessen haben oder anzweifeln, dass die deutsche Kultur seit Goethe, Kleist und Wagner, die internationale Filmszene seit Méliès, Griffith und Stroheim keine so göttliche Erscheinung mehr gehabt hat.“
Paris immerhin hat es begriffen. In zwei Dunkelkammern laufen Syberberg-Filme, deklamiert der ganz späte Oskar Werner den Prinz von Homburg, leidet Edith Clever schwerdeutsche Texte. Es ist alles da von Syberberg, und damit das Material bloß nicht ausgeht, filmt ein Camcorder die Ausstellungsbesucher, zeigt ein Monitor die abgefilmten Zuschauer und ein anderer daneben eine Szene aus Nossendorf, die ein weiterer Camcorder aufnimmt. Ein Besucher ist eingeschlafen vor dem unendlich vergröberten Film auf der Projektionswand, schlummert und träumt vielleicht vom pommerschen Nossendorf, von Oskar Werner und dem Schnurrbart des Künstlers Hitler.
Der Gast, er mag ruhig schlafen, der Camcorder wacht, er wird auch dieses Bild aufgezeichnet haben, für spätere Projektionen und angeheftet als weiteres Beweismittel im großen Prozess, den Sy-berberg mit Hilfe seiner eigenen Vergangenheit gegen die Gegenwart führt.
Der Größenwahnsinn lodert, nicht ganz so farbenfroh wie beim Geistesbruder Anselm Kiefer, aber ähnlich mythenselig und garantiert 100 Prozent ironiefrei. Beide sind hochwertige Exportprodukte, so deutsch, deutscher geht’s nicht mehr.
WILLI WINKLER
Paris, Centre Pompidou, bis 9. Juni.

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Filme für die freudlose Gesellschaft
Einar Schleef ist einer, der schläft: Das Centre Pompidou zeigt die Retrospektive "Syberberg/Paris/Nossendorf". Die Schau gewinnt Entertainmentqualität, wo die Dolmetscherin falsch übersetzt. Betulich wird sie beim Kindheitshaus in Nossendorf
von KATHARINA VOSS
Der Ankläger, der Außenseiter, das Medienopfer. Hans-Jürgen Syberberg hat von den Sechzigern bis heute einen ganzen Haufen kurioser Filme gedreht, die zurzeit in einer Retrospektive im Centre Pompidou in Paris gezeigt werden. Alles, was der Mülleimer der deutschen Geschichte so hergibt, bevölkert sein Oeuvre: Karl May, Ludwig der Zweite und sein Hofkoch, diverse Wagners, Parsifal, Hitler, aber auch Romy Schneider und Brecht. Seine Filme fanden in Deutschland keine sehr freundliche Aufnahme, während sich französische und amerikanische Kritiker begeistert zeigten. Foucault nannte "Hitler, Ein Film aus Deutschland" ein "schönes Monster", Susan Sontag nüchterner ein "Meisterwerk".
Nach der großen, schweren, dunklen Trilogie aus den Siebzigern - 1972 "Ludwig - Requiem für einen jungfräulichen König", 1974 "Karl May", 1978 "Hitler, Ein Film aus Deutschland" - entstanden in den Achtzigern und Neunzigern in Zusammenarbeit mit Edith Clever abgefilmte Monologe: Molly Bloom, Fräulein Else, Penthesilea, die Marquise von O. Der längste von ihnen, "Die Nacht", dauert sechs Stunden und liegt damit nur knapp abgeschlagen hinter Hitlers etwas mehr als sieben Stunden. Zwischendurch besuchte Hans Jürgen Syberberg Winifred Wagner in Wahnfried und ließ sie erzählen, fünf Stunden lang.
HJS verstand seine Filme, vor allem aber sein "schönes Monster" kathartisch, als der Prozess, der Adolf Hitler nie gemacht wurde. Katharsis ist ein anstrengendes Business. Ein übervolles Kaleidoskop, als Gegenstück zu verbrannten Büchern und verbotenen Filmen der reichsdeutschen "Kulturhölle": ewig lange Monologe, durchgeknalltes Dekor, menschliche Schauspieler neben Puppen, Marionetten, Barbies im Fetischdress, Gummipuppen; "Herrschaft, Eros, Körper, Frauen": Sado-Maso-Fascho-Kasperletheater für den Hitler in jedem von uns, denn auch darum geht es HJS. Und um die Manager und Politberater, die im bundesdeutschen heißen Herbst einfach nicht die RAFler in den Griff kriegen konnten, und um deren heimliche Sehnsucht nach strammer Ordnung im Land: Solche Vererbungslinien werden gesucht und aufgemacht. "Er - und wir. Ganz logisch", heißt es an einer Stelle. Die Entwicklung des geölten westdeutschen Kapitalismus rühre daher, dass Geld das Einzige sei, was der Nationalsozialismus nicht für sich vereinnahmt habe. Ökonomie bedeute nicht "Drittes Reich"; aber man habe nach 1945 eben nicht mehr von "deutscher Kultur" reden können. So die These. Die Anklage lautet: Du hast uns die Caspar-David-Friedrichschen Sonnenuntergänge gestohlen.
Die Bestohlenen sind kaum besser als der Dieb. Die freudlose Gesellschaft wird 1981 Gegenstand einer gleichnamigen Kotzschrift gegen das deutsche Nachkriegsestablishment. Ein repetitives, erschöpfendes, von paranoiden Zügen nicht freies Buch. Alle sind irgendwie arschig: die Studenten, die denken, sie seien befreit und revolutionär, weil sie auf Tische scheißen; Oberhausen, das sich als Label für sozialkritische Filmemacherei bläht; die "sexuell Befreiten", weil auch ihre Freiheit nur eine konsumistische Pseudofreiheit ist; die "totale Demokratie" mit ihrer angeblichen Kulturfeindschaft; die etablierten Medien, Die Zeit, Die Süddeutsche, weil sie alle gegen ihn und seine "filmische Trauerarbeit" sind ("Natürlich gibt es keine Verschwörung", aber die Filmpreisvergaben sind ein abgekartetes Spiel); Fassbinder, der "Messias des neuen deutschen Kinos", der "Spiegel-Held", die "Institution RWF, Boulevardfilmemacher der Wachstums- und Konsumgesellschaft, dessen konservative Narrationstechniken … Pseudoneuheit …" und so weiter. RWF und Schroeter auf der einen Seite und HJS auf der anderen Seite beschuldigten sich gegenseitig des Plagiats; Herzog zeigte Solidarität mit HJS. Grass und Kunze finden Gnade. Der Rest ist die Kulturhölle BRD unter der Diktatur des Konsumkinos; auf der anderen Seite die Ostausgabe mit sozialistischem Realismus und Biermann-Feindschaft. HJS billigt sich aus seiner Outcastposition her eine besondere Luzidität. Beliebiger Pluralismus, Freizeitindustrie, Porno (und "linker KZ-Porno"), uniformer und jede Diskussion verunmöglichender Antihitlerismus, das sind die kulturellen Parameter im Land der "seelischen Eiszeit". Warum, fragt er, hat man Hitler überwunden, nur um danach noch schlimmer zu sein als er? Was fand Syberberg gut? Es ist immer einfacher, alles als beschissen abzuklatschen.
Aber nicht alles ist bleischwer. HJS hat auch lustige Ideen gehabt. 1969 hatte er eines Tages spontan die Idee, bei einem niederbayerischen Softsexfilmproduzenten mit dem schönen Namen Alois Brummer vorbeizuschauen. So entstand "Sex Business - made in Pasing", ein Höhepunkt in der Kunst des Dokumentarfilms. Deutscher Sex galore, nackt Bergsteigen und danach schnackseln im Kuhstall, in bayerischen Kiesgruben mit Wildwest-Deko gedreht, und die Dialoge zwischen der Geigen-Moni und dem Grafen Porno sind mindestens so toll wie die Brummerschen Erläuterungen zu seiner Poetik. Und irgendwie ist es erleichternd, für ein paar Sekunden den breit grinsenden Syberberg im Bild zu haben.
Und jetzt? Einen neuen Film (1997) gab es zur Einführungsveranstaltung: HJS steigt mit seiner Kamera auf der Schulter einen Berg hinauf, drum herum Wald, der deutscher nicht aussehen könnte: die Art von Wald, die meinen Freund G. immer dazu bringt, beim Hindurchradeln Wagner zu singen. Hier kein Wagner, stattdessen "Kyrie!" - Mozarts Requiem in einer äußerst schnellen Aufnahme. Dazu HJS Keuchen, weil der Pfad steil ist. Oben Kühe mit Glocken. "Stupeditet Natura …" In den transzendentalen Outskirts der Zuschauererwartung schwebt eine schwere dunkle Wolke mit Lagerfeuer auf dem Berg, Hitlerjugend und germanischen Kampfliedern. Gruselig, deutsch, deutscher, am deutschesten. Was für eine Art von Statement ist das? Am Ende des Hitler war zu lesen: requiesquat in pace.
"Der Mythos, nicht die Psychologie, ist die Wissenschaft, um zu verstehen, was in uns ist." Und was ist das, was "in uns" ist? Eine deutsche Seele, oder was? In der freudlosen Gesellschaft wird sie beschrieben: Uniformträgerei, "Unfähigkeit zu leben, sich zu amüsieren" (woanders ist es anders: "die Italiener singen"), Bauerntreue, Konformismus, Gehorsam - Ordnung - Sauberkeit. Oh Mann! Hier befinden wir uns in der Tat im Königreich des Mythos. Zumindest erreichte die Veranstaltung zwischendurch echte Entertainmentqualitäten, als die Dolmetscherin Documenta mit Dokumentarfilm übersetzte und Einar Schleef mit jemand, der schläft. Tomaten flogen nicht auf die Bühne, aber eine kultiviertere Form von Entrüstung war festzustellen.
Und dann gibt es noch die Homepage und die Installation. Unter www.syberberg.de ("Für Paris-Reisende ein Angebot besonderer Deutschland-Darstellung") findet sich ein betulicher Informationswildwuchs zu Projekten rund um das "rückerworbene" Haus der Kindheit des Künstlers im vorpommerschen Nossendorf, "am Arsch der Welt", wo HJS ein Kulturzentrum einrichten will, Ort der Reflexion über "Preußen, Pommern, Deutschland und Europa", und in das er "Erfahrungen und Ideen einbringen" will, die er in der weiten Welt gesammelt hat. Im Untergeschoss des Centre sind halb offene Räume, in denen immer vier der Syberbergschen Filme parallel laufen. Ein bisschen Bauschutt liegt herum. Und digital gemachte und ausgedruckte Fotos, Fotos und noch mehr Fotos 10 x 15, die über den Fortschritt der Renovierungsarbeiten unterrichten, und die Pariser und die Nossendorfer können sich gegenseitig via Webcams beäugen. Weiß nur kein Mensch, ob irgendwelche Pariser sich für ihre Nossendorfer Artgenossen interessieren. Vielleicht eher nicht. Des Weiteren in Mitleidenschaft gezogen ist das Berliner Hebbel-Theater, in dessen Foyer Leinwände stehen, auf denen aus Paris und Nossendorf live übertragen wird. Allerdings war am 9. Mai um 0.39 Uhr auf der Website zu lesen: "Mittwoch, den 7. Mai 2003. Paris webcams dont move. Therefore wrong impression." Ich probiere trotzdem die Webcams aus. Die Pariser Webcam zeigt an: 11. Mai, 0.28 Uhr. In Paris ist es unscharf. In Nossendorf ist auch nichts los.
Bis 2. Juni, Katalog 18 €
taz Nr. 7065 vom 28.5.2003, Seite 15, 272 Kommentar KATHARINA VOSS, Rezension
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