"Die Biennale ist in einer Zeit des Nationalismus entstanden." Das ursprüngliche Konzept eines Nationenwettstreits sei allerdings schon lang überholt. "Die Pavillons tragen zwar noch die Namen der einzelnen Länder, de facto ist der Länderwettstreit jedoch kein Thema mehr, das ist in der Moderne auch gar nicht möglich."


Heute sei die Biennale eher als "Patchwork" zu bezeichnen. "Kunst ist supranational." Die Strukturen der Ausstellung hält der deutsche Kurator deshalb für überkommen. "Ganz kann man da allerdings nicht raus. Schließlich ist die Biennale eine eingeführte Größe im venezianischen Tourismus."





Deutschland extrem
Seid umschlungen, Müllionen
Ein Museum für die Spaltprodukte unserer Existenz: Halle-Lochau, die größte Deponie der Republik

Als erstes sieht man Rehe, ganze Rudel. Dann Hasen und Fasane. Im Unterholz wühlen Wildschweine, und zwischen den Birkenstämmen, die sich an den Rand des Kraters klammern, stehen Hochsitze: Die größte Deponie Deutschlands, das Loch in Halle-Lochau, hat zwei Jagdpächter. Müll und Wild finden natürlichzueinander. In Kalifornien haben Naturschützer vor Jahren Condore ausgewildert: Die Greifer peilten als erstes eine Müllkippe an.
Frau Lusanow hat bei Leuna gearbeitet (wie Zehntausende andere hier), wurde dann arbeitslos (wie Zehntausende andere hier), hat nach einem Praktikum wieder einen Job gefunden (wie nur wenige), und sieht hinterm Steuer noch kleiner aus als sonst. Als ihr Jeep die gewundene Straße hinabrollt, wird er von einem turmhohen Müllwagen geschnitten, der schwankend und schlingernd die Serpentinen herunterrast. „Oft kippt ein Wagen um, aber glauben Sie, da fährt mal einer langsamer?“, schimpft sie. Ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Grube, wirken die Laster winzig wie rasende Käfer. Dazwischen gähnt ein Loch von 305 Hektar Gesamt- und 60 Hektar Ablagerungsfläche, in dem sich eine Kleinstadt versenken ließe. In fast 30 Jahren ist in der einstigen Braunkohlensenke eine Landschaft gewachsen mit Tümpeln und Canyons, Hügeln und Mikroklima: Ein Kosmos aus 20Millionen Kubikmetern Abfall.
Müll ist eine deutsche Leidenschaft, vielleicht die deutscheste. Welches andere Volk teilt seine Wohnung freiwillig mit vierzehn verschiedenen Behältern für Dreck? Wer sonst spachtelt im Hochsommer fermentierte Speisereste in eine wurmverseuchte Biotonne? Wer liest Kindern Bücher mit dem Titel „Ene, mene, Müll“ vor? Und vor allem: Warum?
Inzwischen hat der Gestank den Weg in den Jeep gefunden: eine herbsüße Mischung, irgendwo zwischen Ammoniak und Fallobst. Aber Frau Lusanow hat als Chemikerin natürlich schon Schlimmeres gerochen: „Das ist nur frischer Müll“, tröstet sie.Meist tarnt Schlamm die Natur dieses Ortes. Aber unten im Kessel, wo der Jeep auf eine Schotterpiste rumpelt, klafft die Kruste auf, und der Müll stößt an die Oberfläche.
Müll ist menschlich. Nicht umsonst spricht man vom „Deponiekörper“ oder von einer „Nachsorgephase“ für die Zeit nach der Stilllegung. Frischer Müll ist unruhig. Wird er nicht kompakt geschichtet, bleibt er weich und bietet eine trügerische Oberfläche. Älterer Müll erwärmt sich, wenn er verrottet. Er scheidet Kohlendioxid und Methan aus, das in einer grauen Wellblechbaracke unter infernalischem Dröhnen verstromt wird und Halle leuchten lässt. Und er verliert schwarzes, fauliges Sickerwasser, das sich unter einer Kiesschicht sammelt, über Rohre in zwei eckige, doppelt abgedichtete Teiche gepumpt wird: eine schaumige, blasige Brühe, die irgendwann ins Klärwerk kommt. Und der Klärschlamm landet wieder auf der Deponie. Auch Müll macht Müll. Ist es das, was uns einander nahe bringt?
Der eiskalte Engel
Am Ende der Müllterrasse, wo die Wagen schwungvoll frische Haufen abkippen, die gelbe „Kompaktoren“ mit breiten Schaufelschnauzen verteilen und mit Dornenrädern verdichten, ganz hinten, wo das Plateau jäh abfällt, leuchtet ein überraschend klares Orange im Zwielicht. Das ist die Jacke von Frau Nitzer. Sie ist „Einweiserin“, kontrolliert, dass die Autos nicht den Abhang runterfallen und keinen Asbest abkippen, wenn Gartenabfälle angekündigt sind. Manchmal versorgt sie verletzte Fahrer; erst unlängst fuhr einem beim Öffnen der Tür eine Eisenstange in die Stirn. Sie steht acht Stunden am Tag in Bauschutt, Gemüsematsch, wehenden Plastikfetzen, und sie liebt ihren Job. Weil sie in der Männerwelt gut klar kommt, wo man sie den „Eiskalten Engel“ nennt, weil sie kein Büromensch ist und weil es ein Job ist: „Früher haben die Leute komisch geguckt. Heute finden sie toll, dass ich überhaupt Arbeit habe“, sagt sie. Ihr Mann ist Entsorgungschef auf der Deponie, die Tochter lernt im Zweigbetrieb: Drei von 85 Angestellten und 17 Auszubildenden. Mitte der Achtziger war hier nur ein Viertel der Belegschaft beschäftigt. Für den anhaltinischen Arbeitsmarkt ist Lochau Gold wert.
Ein Fahrer versucht seit zwei Tagen, eine gefrorene Ladung Folien loszuwerden. Er hebt den Container, wartet, wackelt, senkt ihn wieder. Das Zeug klebt bombenfest. Irgendwann gibt der Fahrer auf und als er wegfährt, schleift der Wagen schmutzige Fetzen wie Eingeweide hinter sich her. Vierhundert Autos rollen pro Tag durch das himmelblaue Eingangstor der Deponie. Sie passieren Waagen, Kontrollhäuser, Stichprobenentnahme und kassieren Begleitscheine mit Hinweisen zur Verkehrsordnung. Es ist wie die Einreise in ein fremdes Land.
Im Reich des Mülls gelten strenge Regeln, und im Strengeregelnaufstellen waren wir schon immer gut. Kaum ein Land hat kompliziertere, strengere Müllgesetze. Generationen von Abgeordneten haben Verordnungen, Gesetze und Richtlinien erlassen und das Milliarden-Geschäft mit dem Abfall so transparent gemacht wie eine Sickergrube. Achthundert Arten Müll kennt die EU, schon eine Sorte lässt sich zur reiner Entsorgungslyrik kompilieren:
„Rotschlamm,
Bohrschlamm,
Sulfitschlamm,
wässrige Schlämme, die Druckfarben enthalten,
wässrige Schlämme, die Klebstoffe enthalten,
Schlämme aus der Wasserklärung,
Schlämme aus der Kesselspeisewasseraufbereitung,
Fäkalschlamm.“
In drei Jahren aber werden sich die Menschen in Döllnitz nicht mehr über den täglichen Müllkonvoi beschweren, denn in drei Jahren ist alles vorbei: Mitte 2005 wird die Deponie laut Abfallablagerungsverordnung stillgelegt, anschließend vierzig Jahre lang beobachtet und am Ende sich selbst überlassen. Wie das gehen soll, weiß heute noch niemand, denn Deutschlands größte Deponie hat einen Geburtsfehler: Sie liegt unterhalb des Grundwasserspiegels. Nicht sehr viel, aber tief genug, dass das Grundwasser alle Schwermetalle und Gifte ausschwemmen würde, würde man die Pumpen abstellen. Umweltschützer finden deshalb, man hätte die Deponie längst stilllegen sollen, am besten schon bei der Inbetriebnahme und spätestens nach der Wende. Der Spiegel nannte die Grube die „größte Ökozeitbombe“ Deutschlands, die mit ihren Billigangeboten eine „Müllsternfahrt“ provoziert habe. Das Angebot an Abfall ist umkämpft, auch in Halle wird der Hausmüll immer weniger.
Die Geschäftsführerin von Halle-Lochau, Monika Rapthel gibt sich einsichtig, aber tapfer: Längst sei man nicht mehr die billigste Deponie, da gäbe es ganz andere, sagt sie. Und dann erzählt sie von Millionensummen für Umweltschutzmaßnahmen, von den Schwierigkeiten „subaquatischer Deponien“, „hydraulische Modellierung“ und ihrem neuesten Projekt, das aus der Not ein Forschungszentrum machen soll, ein Kompetenzteam für die Stilllegung ertrinkender Deponien. Forscher, Ingenieure, Vertreter des Bundes und des Landes sollen das Ende von Halle-Lochau begleiten und erforschen. Soll man das Grundwasser in Gräben leiten? Den Deponiekörper einmauern? Aber was wird dann mit dem Gas? Die größte Deponie der Republik ist ein Projekt auf Zeit. Vielleicht siedeln sich Ingenieurbüros in Halle an, vielleicht wird man das Know-how vermarkten können. Monika Rapthel hat Rücklagen in Millionenhöhe bilden lassen. Das Geschäft mit dem Müll hat gerade erst begonnen.
Mit der Stilllegung wird die Deponie erst ihre eigentliche Aufgabe bekommen. Denn in Wahrheit ist die umkämpfte Grube ein Zeitspeicher, ein Archiv für 25 Jahre deutsches Leben. Eines Tages werden Forscher bei Überflügen in Halle-Lochau ein archäologisches Juwel entdecken und aus den Ablagerungen unsere Lebensgewohnheiten rekonstruieren: In den untersten Schichten ruhen die Herbizid- und Pestizidreste aus der DDR, darauf die Nachwende-Sedimente – Kühlschränke, Autoreifen undMeißner-Porzellan –, ganz oben, in exakten Quadranten, die peinlich getrennten Reste der Gegenwart. Und sie werden wissen: Diese Gesellschaft war besessen von dem, was von ihr blieb.
Vielleicht liegt darin das Geheimnis der deutschen Mülleuphorie: Im Wissen, dass die Spaltprodukte unserer Existenz ein unkontrollierbares Eigenleben entwickeln können, und dass man das Abbaubare vom Unauflöslichen trennen muss, um nachfolgende Generationen zu schützen. Diese Erkenntnis hat mit Umweltbewusstsein zu tun. Aber nicht nur.
SONJA ZEKRI


 


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Mittwoch, den26.Februar
statt des Gutshauses, der Konsum nun
und nur, dass es weg ist, soviel E nergien
hat schon Ulbricht gesagt, als er das Schloss abriss nach der Reichskanzlei. Was aber hinterlassen sie, wir?