Taz,17.1.03
berliner szenen
Susan Sonntagskind
Feiern in der Fremde
Wer ist Susan, das Geburtstagskind? Ein kollektives Schulterzucken und der Rückzug
an die Bierflasche. Nie gesehen, geschweige denn gelesen, aber den Namen, ja
doch, den kennt man. Halbwissen macht glücklich. Gratis-Prosecco auch.
Willkommen in der wundersamen Welt der Galerie "Kunstwerke", wo Susan
Sontag ihren Geburtstag feiert, aber keiner ihrer Gäste weiß, wie
sie aussieht.
"Ein bisschen wie ein Waldmensch", glaubt jemand. Also so eine Art
Komparse für "Herr der Ringe". Wie alt wird sie? Die Schätzungen
reichen von 46 bis 53. Eine schöne Blondine im roten Top weiß es:
Schlag Mitternacht feiert die Susan ihren Siebzigsten! Hm, ist die Haarfarbe
dann noch echt?
Echt graues Haupthaar trägt Adrienne Goehler. Ihr unnachahmlicher Wischmopp
stolziert mit einem Sekt durch die Mexiko-Ausstellung, die nebenbei läuft.
Am Ohr hängen ihr lauter kleine Herzchen in Zapfenformation. Junge Kreative
mit gedämpften Hoffnungen auf Ruhm und Geld treten neben ihr auf Maiskolben,
die eigentlich Kunst sind. Chefkurator Klaus Biesenbach lässt sie einsammeln.
Er hat seine Augen überall, ist die wuselnde Spaßmaschine. Wer ist
gerade gekommen und wieso spielen wir nicht noch mal "Kaltes klares Wasser"?
Ach ja, Susan ist inzwischen eingetroffen. Sie lächelt charmant in die
fremden Gesichter. Heute Nachmittag sei sie in einem Buchladen erkannt und flugs
gefragt worden, wie sie Postmodernismus definiere, heißt es. Zehn vor
zwölf läuft Antje Vollmer ein. Biesenbach startet aufgeregt den Countdown.
Um zwölf geht die Musik aus. Jetzt ist es so weit. Aber außer ein
paar echten Freunden traut sich keiner, Susan zu gratulieren. Dann läuft
noch siebenmal "Kaltes klares Wasser". " ULF LIPPITZ
16.01.2003
Tagesspiegel
Die Sphinx im Zeichen des Saturn
Zum 70. Geburtstag der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag
Von Gregor Dotzauer
Über ihre Rolle hat sich schon die halbe Welt den Kopf zerbrochen. Unseren
Erasmus hat Carlos Fuentes sie genannt. Für Herbert Mitgang in der
New York Times war Susan Sontag dagegen nur ein literarisches
Pinup-Girl. Den Paganini des kritischen Essays hat James Sloan
Allen in ihr erkannt, Irving Howe allerdings nur eine Publizistin, die
aus Omas Flicken wundervolle Quilts herstellen kann. Auch ob sie eine
neue Coco Chanel der Künste (Mary Ellman) oder eher die dunkle
Dame der amerikanischen Literatur (Norman Podhoretz) ist, die Königin
der Camp-Ästhetik (Edward Field) oder die Sibylle von Manhattan
(Boyd Tonkin), die tapfere Minerva eines echten neuen Underground oder
jemand, der den letzten Schrei des französischen Modernismus, des New Yorker
East Village Pop und andere Arten höheren Unernstes glattzüngig abkupfert
(Theodore Solotaroff) über all das streiten Bewunderer, Gegner und
Neider ihrer Spitzenposition im geistigen Leben der USA.
Man muss, um ein Bild ihrer kontroversen Person zu gewinnen, höchstens
noch ein paar andere Zitate aus der Liste im Anhang der ersten ihr gewidmeten
(unautorisierten) Biografie von Carl Rollyson und Lisa Paddock ergänzen
(Susan Sontag The Making of an Icon, W.W. Norton, New York/London
2000). Eines aus dem Mund der intellektuellen Generalistin Mary McCarthy, die
in Sontag ihr Spiegelbild (the imitation me) sah. Eines ihres Sohnes,
des Journalisten David Rieff (der neugierigste Mensch unserer Zeit).
Und eines von ihr selbst, in dem sie sich zur Passionara der Linken
erklärte.
Was immer an den Zuschreibungen stimmen mag, die zur Erschaffung der Ikone geführt
haben: Susan Sontag hat die Kraft, sie zu provozieren, mit einem Hang zur Selbststilisierung,
der, gerade weil er ängstlich darauf bedacht ist, Privates aus ihren Texten
und Gesprächen so weit wie möglich auszuklammern, der Deutung ihres
sphinxhaften Habitus und ihres charismatischen Auftretens ideal korrespondiert.
Ihr Einfluss geht bis weit in die sechziger Jahre zurück, als ihr Essay
Gegen Interpretation mit dem berühmten Schlusssatz Statt
einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst kanonisch wurde oder
ihre Anmerkungen zu ,Camp mit ihrer Vorform einer Trash-Ästhetik.
Auch in Deutschland machten diese beiden 1968 in dem Band Kunst und Antikunst
veröffentlichten Texte Karriere. Doch schon damals galt ihr Interesse weniger
dem Feld, auf dem sie gefragt war, als demjenigen, das sie von Jugend an erobern
wollte: der erzählenden Literatur. Das früheste Zeugnis dieses Ehrgeizes
ist der Roman Der Wohltäter, lange bevor sie Ende der siebziger
Jahre mit ihrem Aufsatz Im Zeichen des Saturn über Walter Benjamin
ans Ende ihres essayistischen Weges gekommen zu sein meinte, nachdem ihr der
Stoff gegen ihren Willen zu einem hochmelancholischen Selbstporträt geraten
war.
Lateinische Klarheit
Susan Sontag hat mehrfach beschrieben, welche Befreiung das Erzählen für
sie war, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Wort das andere gab, während
sie in ihren Essays die schmerzvolle Hürde des ersten Satzes kaum mehr
überwinden konnte. Doch so erfolgreich Der Liebhaber des Vulkans
oder zuletzt In Amerika waren: Sontag fühlt sich in ihren Romanen
zu etwas berufen, das nicht ihr Metier ist. Ihre Bücher sind theoretisch
so schwer infiziert, dass sie oft nur im Reflektieren über das Erzählen
vom Fleck kommen: mühselig den vermeintlichen Anforderungen des 20. Jahrhunderts
angepasste Metafiktionen, die obendrein unter einer stilistischen Sorglosigkeit
leiden, die sich die Essayistin in ihrer lateinischen Klarheit nie durchgehen
lassen würde.
Man muss nur Krankheit als Metapher lesen, ihr populärstes,
später um einen Aids-Teil erweitertes Buch und insofern ihr persönlichstes,
als es Folge einer Krebserkrankung Mitte der siebziger Jahre war, die sie gegen
jede Wahrscheinlichkeit überlebte, bis sie vor vier Jahren ein zweites
Mal bedroht wurde. Die Zurückweisung von Krankheit als Strafe und Ausdruck
einer bestimmten Persönlichkeit ist die polemische Seite des Textes. Ihm
steht eine philologische gegenüber, die etwa den literarischen Reiz der
Tuberkulose mit ihren enthusiasmierenden Fieberschüben gegenüber dem
grauen Zerstörungswerk des Krebs bedenkt.
Kunst und Politik waren für sie, die Linkslibertäre, Bürgerrechtlerin
und Anwältin eines freien Sarajevo, nie Widersprüche. Sie hatte aber
auch nie Schwierigkeiten, die Arbeit von rechten Figuren wie Hans-Jürgen
Syberberg oder Leni Riefenstahl zu verteidigen. Es war eine Freiheit, die sie
als Amerikanerin, die nicht erst in ihrer Pariser Zeit europäisches Gedankengut
assimiliert hatte, zur transatlantischen Vermittlerin in beiden Richtungen prädestinierte.
Im März erscheint in ihrem Verlag Farrar, Straus & Giroux ihre Untersuchung
Regarding the Pain of Others. Sie will ähnlich umwälzende
Einsichten vermitteln wie einst ihr Essay Über Fotografie.
Im Angesicht fremden Leidsdenkt nach über die visuelle Repräsentation
von Gewalt in der Kunst und in den Medien, angefangen bei Goyas Radierungen
über Die Schrecken des Krieges über Fotografien aus dem
amerikanischen Bürgerkrieg bis zu den Schlachthausbildern aus Sierra Leone,
Ruanda und Bosnien. Abstumpfung oder Anregung zur Nachahmung: Die Alternative
wird für sie nicht zählen. Erst im Widerschein der Kunst wird für
Susan Sontag die Welt erfahrbar.