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Babylonische Gefangenschaft 2003
Aus Bagdad berichtet: Markus Deggerich
Das Imitat des Imperiums liegt im Staub. Für Touristen wurden Teile des
historischen Babylon wieder errichtet. Ein gespenstischer Ort - und über
den Mauern der Ruinen thront der heutige Herrscher.
SPIEGEL ONLINE/Markus Deggerich
Fremdenführerin Muna. Muna heißt "Wunsch". Und Munas größter
Wunsch heißt FriedenBagdad/Babylon - Muna muss gegen den Wind anschreien
und schützt sich mit einem blauen Tuch gegen wirbelnden, trockenen Sand.
Seit zwanzig Jahren führt sie Besucher durch das mythenumwehte Babylon,
das als großes steinernes Luftschloss ohne Innenleben an historischer
Stätte 90 Kilometer südlich von Bagdad nachgebaut wurde.
Saddam Hussein, der gerne nach größerem strebt, als ihm und seinem
Volk gut tut, hat sich sinnigerweise hier in Babylon einen seiner zahlreichen
Präsidentenpaläste hochziehen lassen. Natürlich nicht auf Augenhöhe.
Er blickt aus seinen Türmen herab auf das Land Nebukadnezars und den Ort,
an dem Alexander der Große starb. "Hier sind die Wurzeln der Menschheit,
der Zivilisation - und der Religionen", sagt Muna und weist auf die noch
recht gut erhaltene gepflasterte Straße, die erste, die Menschen jemals
bauten.
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Saddams Palast: Babylon zu Füßen "Wir haben alle den selben
Ursprung", sagt sie und blickt in die Ferne. In diesen ersten Tagen des
Jahres 1424 nach dem islamischen Kalender macht sich Muna große Sorgen
um ihre Landsleute - und um Babylon, den Ort ihrer Träume. Schon als Kind
hatte sie sich gewünscht, in Babylon zu arbeiten. Auch wenn es sich größtenteils
um Nachbauten handelt - hier spürt sie den Atem der Geschichte.
Die Träume der Führer
Im Zweistromland blühten schon viele Hochkulturen. Im Süden Babylon
und Ur, die Heimat des biblischen Urvaters Abraham. Im Norden Ninive und Nimrod.
Ackerbau und Schrift wurden in Mesopotamien erfunden. Doch fast scheint es,
als habe auch der Krieg seine Wiege im Land zwischen Eufrat und Tigris. Immer
wieder wurden Städte und Zivilisationen in blutigen Schlachten verwüstet.
Korruption, ethnische und religiöse Konflikte zwischen Arabern und Nicht-Arabern,
zwischen Muslimen, Christen und Juden spalteten das Land. Das ist bis heute
so geblieben - doch das ist ein Tabu im Irak.
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Früher kamen jährlich rund 100.000 Touristen - heute ist das teils
wieder errichtete Babylon ein gespensticher OrtSaddam Hussein will Führer
aller Iraker sein und am liebsten auch der große panarabische Vereiner.
Er selber gehört der sunnitischen Minderheit an, die Mehrheit der irakischen
Muslime sind Schiiten. Noch vereinzelt leben ein paar Christen und auch Juden
im Land. Wer in Saddams Augen die Einheit seines Reiches und damit seine Macht
bedroht, wird gnadenlos bekämpft: So geschah es den Kurden im Norden und
auch immer wieder den Schiiten, die hauptsächlich im verarmten Süden
leben - eine bis heute vom Regime in Bagdad absichtlich vernachlässigte
Region.
"Wir sind alle Gläubige"
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Imitat eines Imperiums: Das an historischer Stätte errichtete BabylonMuna
versteht die Welt nicht mehr. "Jeder beruft sich auf Gott", sagt sie.
"Warum können wir dann nicht in Frieden leben?" Sie glaubt, dass
dem Irak Unrecht geschieht. "Wenn die Inspektoren hier in Babylon suchen,
werden sie sicher noch irgendwo ein Schwert von Alexander ausgraben. Das wird
dann gegen uns verwendet, weil wir es nicht freiwillig der Uno übergeben
haben."
Kriegsgeheul rund um Babylon
30.000 Dinar bekommt sie im Monat vom Staat als Fremdenführerin. Das sind
rund 15 Dollar. Davon kann sie ihre fünf Kinder nicht ernähren. Deshalb
ist ihr Haupteinkommen eigentlich das Trinkgeld der Touristen. Rund hunderttausend
kommen in normalen Jahren. Doch seitdem rund um Babylon wieder Kriegsgeheul
ertönt, bleiben die Besucher fern.
Muna heißt übersetzt "Wunsch". Ihr größter Wunsch
war früher, einmal im Leben nach zu Berlin reisen. Denn während in
Babylon fast nur Nachbauten stehen, hatte eine deutsche Expedition vor dem Ersten
Weltkrieg viele Originale Babylons verschleppt. Im Berliner Pergamon-Museum
ist mehr Babylon zu finden als im Irak.
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Muna - schon als Kind träumte sie davon, in Babylon zu arbeitenDoch nun
ist Munas größter Wunsch ein anderer: Es soll keinen Krieg geben.
Sie fürchtet nicht nur um ihr geliebtes Babylon, das zum Ziel werden könnte,
weil direkt nebenan einer von Saddams Palästen steht. Sie hat auch Angst
vor dem, was danach kommt, nicht nur im Irak. "Ich verstehe nicht viel
von Politik. Aber dieser Krieg wird die ganze Welt treffen", fürchtet
Muna. Wie einst. Als Gott der biblischen Legende zufolge im Zorn den Turm zu
Babylon zerstörte, die Menschen einander entfremdete und in alle Welt zerstreute,
weil ihm der Größenwahn dieser Spezies zu viel wurde. Muna deutet
auf den Hügel, wo der Turm gestanden haben soll. Es ist kaum was übrig
geblieben vom Weltreich der großen Führer. Nur Staub.