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Der alte Kortner, in Becketts "Letztem Band" unvergleichlich, mußte als "Shylock" in einer Fernseh-Inszenierung noch einmal als einer unter anderen weniger sein als in dem Monolog-Film mit nur einem Ausschnitt aus dem "Shylock" und mit Fausts Ende, - in privatem Anzug auf leerer Bühne, (was ihm auf dem Theater keiner abgefordert), weil man in der noch einmal versuchten vollständigen "Shylock"-Inszenierung versäumt hatte, entschiedener alles um ihn herum zu bauen.
Oskar Werners letzter Auftritt war gezeichnet von den Todesworten dieses auf sich genommenen Endes seines "Homburg" im letzten Lebensjahr, nach dem des Erbarmens Würde seiner provinziellen Geistes-Existenz nicht mehr Fortsetzung finden konnte in einem geplanten "Cäsar" am Burgtheater als einer unter anderen berühmten Namen, woran schon 13 Jahre vorher der "Hamlet" in Salzburg scheitern mußte: An der Unentschiedenheit zu sich selbst. So wie dieser "Homburg" in Gefahr geriet ohne die nötige Partnerschaft, die ihm Garantie gegeben hätte zur einzigen Form, die hier legitim und rettend gewesen wäre: dem noch entschiedeneren Ich-Notat, das hier dann doch - trotz aller Erbärmlichkeit und im fremden Lachen - noch durchschien: in der letzten Gebrechlichkeit mit dem Preis des Todes. Dies "Nun", - vor dem " O Unsterblichkeit bist du ganz mein!" als letzte Worte einer solchen Bühnen- und Kunstexistenz war auch in einem geplanten "Faust" mit Nastassja Kinski als "Gretchen" nicht fortsetzbar. Selbst konnte er den Weg nicht mehr finden, für ein Zurück - das wäre nur Desaster der Eitelkeit von Maskenmenschen gewesen - und für ein "Nach  vorne" gab es keine Kraft in dieser Zeit für ihn allein unter solchen Leuten der Inzucht und Ignoranz eines "toten Landes". Man könnte auch milder sagen, gebrochen unter der Last neuer Hybris aus Rechtschaffenheit in den moralisierenden Unterwerfungsgeschäften und ihres Pakts mit dem lärmenden Nichts ohne Atem der Ewigkeit, wenn es um die Existenz geht, aus der wir kommen und gehen.
Wenn wir am vorliegenden Beispiel des gerade wieder als "geniale Umdeutung des preussischen Nationaldramas" bezeichneten "Homburg" durch die Schaubühne die Malaise dieser dort entstandenen Praxis und Oskar

Werner-Gegnerschaft im  Regietheater jener Zeit genauer anschauen und beides vergleichen, so entpuppt sich der ganze Popanz jener "Melancholie der Zeit" genannten Ästhetik als Sentimentalität, Larmoyanz und als Manierismus einer Ausstattungsdramaturgie technokratischer Macher-Aktivitäten der als Aufklärung verkauften '68er-Ideologie eines Ensemble-Tricks aus nicht zu leugnender "Psycho-Kiste", woran Medien-Funktionäre, hilflos-aggressiv gegen die Väter-Generation, gar nicht vorbei konnten. Der Absturz war programmiert, wenn solche Liebesgeschichten sich dann als das erweisen, was sie sind, sobald der Gefühlsrausch abfällt, nämlich als lärmendes Nichts, hier dann auch noch zynisch ausgegeben als eben echtes Theater der Lügen-Masken von Grund auf und als Marktwert-Qualität im Augenblicksgetümmel jenes Pakts mit dem Establishment der Zeit.

Dabei war eine Lösung zu finden gerade in dieser Zeit, in der Theater möglich war wie noch nie mit experimentalen Freiheiten nach allen Seiten offener Formen. So sagt man. Nicht als sich totlaufende Interpretationsvarianten zu sich nicht vermehrenden Texten, sondern aus der Ich-Autorenschaft der Darstellenden, auf der Bühne und im Publikum oder auch vermengt, wenn sie souverän gewesen wären. Aber waren sie denn das, an allen Irrtümern, die das Leben spannend machen, ehrlich scheiternd, authentisch in der Tragik unserer Zeit, identisch mit diesem Lande an diesem Ort, Kämpfende, nicht alle offenen Türen der Öffentlichkeitsorgane Einrennende, sondern als Leidende, die man braucht, selbst wenn man sie bekämpft ?

Brecht schrieb 1953, als die Funktionäre des Ostens seinen "Urfaust" nicht wollten, über die "Einschüchterung durch Klassizität". Das war gegen die offizielle Linie der östlichen Nachkriegsästhetik am prominentesten Theater der Ostrepublik. Wo machte einer und schrieb einer von unseren wichtigen Leuten am prominentesten Haus im freien Westen  etwas gegen die offizielle Linie, etwa über die Einschüchterung durch Aufklärungs-Modernität ? Der falsch verstandenen Aufklärung z.B. ohne Mut, weil kein Anlass und alles offen, erlaubt, frei ? Kein Brecht ? Eine Generation ohne Entwicklung, aus falscher und präpotenter Schülerschaft ? Gute Schüler, aber keine Menschen.

Was war der Impetus des "Urfaust" Brechts ? Eine neue Ästhetik der Abtrünnigkeit. Des sonst Geschätzten ? Es war einfach, er war der Darstellerin des Gretchen im Herzen zugetan. Und das merkte man der Aufführung an. Sie war nicht sensationell als Gegenmodell zum eigenen"Epischen Theatersystem", sondern unter deutlich von allen Mitwirkenden beklagter Vernachlässigung aller anderen Stränge eine nahezu monologisch sich auswirkende Bevorzugung und Stärkung eines Gretchens aus herzlicher Sorgfalt und neuen Gedanken. Und darin war er modern im besten Sinne neuer Einsamkeiten auf der Bühne, Beckett vergleichbar, hier aus der Praxis seines Theater-Lebens. Und als Kortner vor der Kamera auf der Bühne noch einmal seine alten Text e zitierte und sprach und damit eins wurde, war er interessant plötzlich als Ich-Figur in seinen Rollen. Das war ausbaufähig.

 

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Nein, Oskar Werner hatte keine Chance mit solchen Gegnern, unter Blinden und Tauben, ohne eigene Ästhetik neuer Darstellungs-Autoren, trotz einer Freiheit der Formen wie nie, selbst unerlöst und ohne Hilfe. In einer Demokratie, die ihren Kunstauftrag nie fand. Sicher ist es immer eine Frage der Macht, sich mit allen Mitteln die Anderen vom Leibe zu schaffen, die Benutzbaren zu unterwerfen und dienstbar zu machen, zu zerstören und sein Gen fortzupflanzen auf den Ruinen der Vernichteten der Zeiten und Länder und Existenzen rundum. Aber wenn nichts ist als bloßes Machen, ohne Herz und Verstand, die miteinander untrennbar Verbundenen, und die gebrochene Unheilbarkeit der Zeiten sich mit der brutalen Machtgier verbindet, dann ist das nassforsche und zerstörerische Selbstbehaupten dieser Existenzen Ursache aller Verhinderungen und Untergänge solcher letzten Emanationen theatralischer Kunst, wie sie mit einem Oskar Werner endeten, in altem Wissen, was hier mit intuitivem Gefühl gerade noch einmal erreicht wurde jenseits des Betriebs und mit Hilfe jener geistigen Koordinaten, die solche Höhe halten und alleine garantieren.

Eine Generation, die sich mit Preisen im Namen Kortners oder als seine sogenannten Schüler gerne schmückt, hat es nicht geschafft, Oskar Werner den Abtritt von der Bühne zu bieten, der ihn zumindest sachlich dokumentiert hätte. Er war nicht direkt konfrontiert ihr Gegner, und doch haben sie ihn auf dem Gewissen der Scham und haben Schuld, nicht einmal den Ernst dieses Abgangs wahrgenommen zu haben. Im dritten Fall wird weiter unproduktiv gehandelt. Und wenn man sie fragt, so wissen sie nichts, nicht einmal, worum es eigentlich geht. Alle. Selbst die Freunde. Unwissenheit im Bereich der Kunst aber ist nur dem erlaubt, der aus Eigenem ist, existiert und schafft. Wo aber wäre denn dies Eigene von Anfang an je auch nur gewollt ?
Schlimm jedoch und unendlich traurig, auch tragisch, ist das Scheitern aus Schwäche im System dieser demütigen Unproduktivität des Geistes, wenn die Flügel beschnitten, der Käfig nun zur Welt heroisiert wird, Käfig einer einmal erreichten Freiheit ins neue Land, wie abgründig auch immer. Aber nicht zu verzeihen ist jenen Ausbeutern, die an dieser Not sich nähren.

 

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Der Versuch unserer Zeit zur Ich-Form, den Kosmos aus dem eigenen  Erleben zu verantworten, auch auf der Bühne zu versuchen, scheitert immer wieder in kümmerlichen Ansätzen oder in unerlösten Experimenten und am Widerstand eingeübter Theaterpraxis aus verschiedenen Gründen von Ignoranz bis hin zu böswilliger Eifersucht oder Angst. Was in Literatur und Malerei oder sonstiger Kunstbehauptung geläufig ist, endet auf dem Theater am Widerspruch zwischen monomanischem Regietheaterkonzept des ichsüchtigen Dieners an Partitur und Ensemblegeschehen und jener Phobie, produktiv sich zu bekennen und vielleicht auch am Unvermögen zu lösen und zu leisten, was da zu tun wäre. Oskar Werner drängte kraft seiner Aura zum monologischen Theater von "Tasso" über "Hamlet" bis zu seinem letzten "Homburg", ohne den Mut gefunden zu haben, das offen zu sagen und zu behaupten, wenn er auch in der geplanten Faust-Mephisto-Einheit schon weit ging oder in jener von Freunden bezeugten Operndemonstration der Zauberflöte durch ihn allein mit allen Stimmen und Hauptinstrumenten dazu. Erlöst aber war dieser Wunsch nicht. Soweit ersetzten auch die Gedichte ohne Raum in vielen Lesungen schon das Theater des  Betriebs.

Wenn nun dieser "Homburg"-Film nachträglich als Monolog verstanden wird und, nur seine Linie herausgenommen, ihn gerade noch umgeben von den anderen zeigt und ihn dann herauslöst, so wird diese Lösung nur gerechtfertigt sein in ihrer Höhe, wenn sie allein ihm gewidmet ist und beweist, was er wollte. Daß in ursprünglichen Zeiten dieses Theaters einmal aus dem Chor der einzelne heraustrat und so zum Einzel-Ich wurde im Dialog mit den Anderen, ist lang vergessen, versäumt und wäre doch wert, bedacht zu werden: Was das hieß und noch immer bringt gerade in unserer Zeit der Kunstlegitimation aus der Ich-Darstellung und ihrem Verständnis. Man überlege die läppischen oder großen Schlußworte des "Homburg" im Heilgetöse ("Sieg, Sieg, ins Feld, ins Feld") und im chorischem "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs", wenn das zurückgegeben werden kann in einen Mund, aus dem es kam, dem Dichter-Ich des Darstellers. Und man erwäge Hölderlins Schicksal, aufgeteilt und wieder zusammengeführt in einer Seele, in die vielen Gestalten seines Ichs, oder Richard Wagners Möglichkeiten, wenn man seine seltsam maskierten Figuren eines historisierenden Jahrhunderts ins Ich verlegt, dessen Flucht Nietzsche ihm vorwarf, dieser offene Bekenner seines Irrens. Wieviel wäre da noch zu tun und zu finden und lange kein Ende.

 

 

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Eine mögliche  Bühnen-Ästhetik, die das heutige Ich-Universum im Seelen-Drama individueller Innenwelterfahrung als Erforschung und Verantwortung des äußeren und erweiterten Kosmos ernst nimmt, wird einen anderen Typus der Darsteller brauchen und entwickeln. Nicht den Masken-Menschen, der sich in vielen verschiedenen Rollen anderer Figuren erfährt, sich prostituierend wie eine "Hure" (Minetti), im "Bordell"-Vergleich (P.Stein:"Früher war das um die Ecke"), in immer mehr Nacktheit und Intimität, wie Wachstumsraten des Jahres zu messen, daß uns Angst wird, wohin das nach dem Ende solcher Wachstums-Ideologie dann führen soll, wenn nicht in Wellen der Moden immer wieder zurück und von Neuem als blödes Spiel. Es wird jene Darstellung und Menschen der Ich-Aussetzung geben, die, in sich gehend, eine Linie der offengelegten Schichten zeigen, Schichten unserer aller Neugier, Erfahrung und - in unumkehrbaren Entwicklungen - Figuren des Alterns, der Freude und des Schreckens, aller Erfahrungen  des Lebens also, aber als Ensemble, Dinge und Landschaft der Seele selbst, worin jeder sich erkennen kann als neue Empirie der Zeit, - auf spannende Weise alten Menschentönen gemäß mit neuen Melodien. Um die Praxis dieser Möglichkeiten in verschiedenen Varianten zu versuchen, wäre es hilfreich zu fragen, was das Urgestein des Theaters, der Chor, eigentlich war und uns heute sein kann. Der Chor vor der Landschaft statt unserer heutigen Höhlen und Techniken von Beschallung und Licht und welche Funktion Ton und Bild in diesem verändertm Kosmos des Ichs dann übernehmen können. Oder Projektionen und leere Räume, begehbar und mit Video-Augen, live oder weit darüber hinaus. Oder nichts als der Mensch, der dort oben steht. Oder einer, so verstanden unter anderen, oder die anderen um ihn oder nur sie. Ist das aber einmal erfaßt, erlaubt es kein Zurück. Diese neue Ich- und Welterfahrung schließt jeden Handel mit den alten, musealen, entkräfteten Maskenspielen als Erforschung unserer weitertreibenden Seelenwelten aus. Oskar Werner nahm lieber sein verhöhntes Scheitern und isoliertes Leben als Zuerkennung eines höchsten Triumphes auf sich, verglichen mit den kleinen Siegen, den schändliche Erfolge auf den Schlachtfeldern des Betriebs ihm noch garantiert hätten.

 

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So wäre es auch möglich, mit den nachgelassenen Tönen eines Menschen zu sprechen, auf sie zu reagieren, sie zu beantworten in Totengesprächen, neuen Dialogen mit dem Jenseits, klagend erfüllend, was hier vorher nicht möglich war, Antwort zu geben, auch mit dem Körper des Zuhörens, und zu ergänzen das Unfertige. Oskar Werners Faust-Fragmente auf dem Band so

zum Raum werden zu lassen, mit einer Frauenfigur, einem von ihm noch nicht gesprochenen Gretchen, aus alter Zeit, oder ihn zu konfrontieren mit Heutigen der Bühne und nicht den Rollenmenschen, die er nicht mehr erreicht. Und es wäre denkbar, seine letzten Lieder aus Wien, mit der Melancholie des Todes, mit ihm zu neuer überirdischer Heiterkeit zu führen, wenn eine seiner ehemaligen Partnerinnen ihm so noch einmal begegnete, mit singender Antwort in anderer Sprache, aus dem Land der frühen Filme, und nun in der Antwort auch eigener Lieder. Und der "Homburg" wäre denkbar als Monolog im begehbaren Raum und das letzte Band dazu seines todwunden Redens aus der Realität eines Alltags des Verbannten. Dies und alles zusammen. Was wäre mehr des Theaters als solch ein Dienst produktiver Liebe aus unserer Welt in der Anrufung, stehend, von  dort und zurück. Neue Gänge, neue Räume, andere Worte und Gedanken und doch alles des Menschen Drama in Klage und Freude, in jedem von uns in Konstellationen eines alten Fundus zu neuer Gestalt zu wecken.

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Das Theater, inzuchtgefährdet, wie es ist, wird sich nur erneuern, wenn es ihm gelingt, die museale Ecke zu verlassen und doch mangels neuer Partituren dienend neue Formen des Eigenen von der Zeit, aus dem Ich der Leute, die das machen, und des Landes, aus dem das kommt, zu kreieren und dabei endlich hier die lähmende Hörigkeit der Ablassfunktion für die Schuld der Regierenden und Subventionsgeber abzuwerfen.
Der Film muß, jenseits der Kinosekte der beschränkten Altersgruppe und des Fernseh-Quotenfluches, endlich sich begreifen als Ausdruck der Zeit, die nur in der Kunst überlebt, wenn Mehrheitsmarkt und Konsum abgeworfen werden und die Freiheit Gestalt wird, um die es geht.
Regie beginnt jenseits der Chamäleon-Kunst internationaler Multi-Unkultur und Okkupation. Darstellung in der Konsequenz eigener Entwicklung bewies ein Oskar Werner, von der Bühne herkommend, im Film noch über Olivier hinaus in einer Deutlichkeit, die über Augenblickswirkung hinaus grenzüberschreitend das Eigene behauptete bis zur Verweigerung, um den Preis, den wir kennen.

 

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Oskar Werner sprach von der Kunst der Darstellung als einer der Einbildungskraft. Er sprach nicht von Ausdruck etwa dessen, was von innen zur Gestalt wird und nicht von Mimischem oder Mummenschanz der Verwandlungsfähigkeit oder Maskenkunst, sondern meinte wohl das, was der Darstellung gelingt, wenn sie in Zuschauern oder Zuhörern Figuren oder Welten der Vorstellung ohne Grenzen weckt.
So wird der handeln, der als sogenannter Regisseur oder Metteur-en-scène oder Director diese Möglichkeiten beschneidet, der für eine Ich-Regie seine Mitarbeiter einsetzt oder benutzt und der mit dazu dienenden Darstellern seinen Zweck oder Sinn besetzt. Er wird es dürfen und können, je größer  er ist und je zumutbarer die dazu dienlichen Beteiligten sind oder sich machen. Der aber, der diese Größe der menschlichen Darstellung erkennt und sie aktivieren kann , wird wie der Dirigent, der das Orchester als Teppich den Solisten zu Füßen legt, um  die Stimmen in der Musik des Orchesters sich entfalten zu lassen und auch hier der Gestaltung dienen und damit sich selbst, wenn er den Rahmen schafft im Raum und die Koordinaten der geistigen Bühne, in der sich diese Einbildungskraft des Darstellers oder der Darstellerin erst vergrößert, wie ein  Gesang und sich entfaltet als ein gewaltiges Universum, umso reicher, als er hier zurücktritt, indem er selbst in dieser Eindrucksfähigkeit der solistischen Darstellung dann erscheint.
Regisseure der ersten Kategorie werden das meiden, wenn nicht aus Unfähigkeit, so doch aus enger Beneidung. Und sie werden die Kleineren suchen, die da nützlich sind, oder die, die ihrer bedürfen, abhängig machen, so wie die Großen der Einbildungskraft einsam ihre Kreise ziehen oder aussterben oder sich verweigern, wenn alles missbraucht wird, was diese Kräfte schulte oder suchte.

 

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Denn nicht eigentlich einen Regisseur hätte er gebraucht , aber Liebende entdecken und annehmen müssen -  oder hätte man ihm gewünscht-, um ihn dort hinzubegleiten, wo das Theater nicht hinkommt, um das Theater daraus gegen alles um ihn neu zu schaffen. Man kann Einbildungskraft auch bauen. Durch die ästhetischen  Erkenntnisse des Films. Wenn beides zusammenkommt, die oben beschriebene Einbildungskraft der aufgehobenen Darstellung und die geistigen Koordinaten des Films, dann ist die Kunst stark und reich genug, ihrer  Zeit gemäss in den Schranken ihrer Hybris gegenüberzutreten, um ihr die Reife zu geben, die ihr zukommt.

Der solcher Kräfte fähige Mensch der Darstellungskünste auf der Bühne des Ichs wird nicht eine Figur sein und nicht als noch so redlicher Verkörperer einer Idee wirken, sondern die in der klassischen Dramensprache dichten Bilder im Raume der Vorstellung entstehen lassen und durch Strenge wissen, wie er sie mit Gesten, Schweigen, Gängen oder Tönen aus dem pathologischen Wabern unseres Theatermanierismus erlöst in die Gestalt, die mehr ist als zufälliges Pathos, ohne das es nicht geht, mehr als die in die Strenge erlöste Form des Leidens, damit überwindende Freude alle Tragik des Seins besiegt.
Diese eigentliche Gabe und nur mit Willen und Pflege zu erziehende Einbildungskraft, vulgär "Aura" genannt, kann zum Teil ersetzt werden durch Aggressionswillen, partielle, ablenkende Krankheitssymptome der Psyche, die ausgestellt wirkt und heute gerne provoziert wird, auch durch proteische Effekte.

Wenn aber Liebe entsteht, zugelassen und aktiviert werden kann, wird sie im Film eine unschlagbare Naivität entwickeln und auf dem Theater, gepaart mit der Gesetzmässigkeit des Rituals, selbst altes Handwerk, alle Aura der Kunst in  Frage stellen, solange sie sich nicht  verrät.
Als Erinnerung könnte sie noch eine Zeitlang täuschen von der stetigen Zeugungskraft ihres ursprünglichen Volumens, als Sehnsucht ist sie erlösungsbedürftig, als vorübergehende Kraft erträglich wie kindlicher Vorschein, als Rache-Echo ein armes Tugendbegehren und alles in allem nur statthaft als Kunst, wenn sie aus dem Fundus wächst immer neu des Lebens sich wandelnder und unerschöpflicher Veränderung, die zur Form sich drängt.

 

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Das Videoband mit dem letzten Auftritt Oskar Werners in Wien am 3.Februar 1984, dem Jahr seines Todes, in dem den Wienern heiligen Musikvereinssaal, zeigt den Gebrechlichen der Todesnähe oft den Tränen nahe, wenn er die Worte "Mutter" oder "Kinder" berührt. In der letzten Zugabe dieser Josef Weinheber gewidmeten Lesung, dem Gedicht "Der Phäake", der Schilderung des langen gastronomischen Tagesablaufs eines Wiener Genießers mit Ganserln, Selchfleisch, Rumpsteak, Bier, Wein, Kaffee, schließt er mit den Worten:

"Glaubn S'nicht, ich könnt ein Fresser wern,
ich hab sonst nix, drum leb ich gern,
kein Haus, kein Auto, nicht einmal
ein G'wehr im Überrumplungsfall.
Wenn nicht das bissel Essen wär------

(Stimme des Volkes:)
Segn S', d e s w e g e n  ham S'nix, liaber Herr !

So tritt der größte Held, der mit dem "Cornet" Rilkes in die Schlacht zog, mit der "Bürgschaft"und "Hamlet" oder "Tasso" manche Siege der Poesie erlitt, nun ab als Narr in der Preisung des Wohllebens, da er sonst nichts habe, und erweist sich eben gerade im Selbstbekenntnis des "Nichts-als - leben" als der eigentlich Reiche, lachend wie seine dichterische Gestalt. Er hat Haus und Auto und ein "G'wehr im Überrumplungsfall" durch seine scharfe Zunge und ist doch gerade dort reich, wo seine Armut für die anderen beginnt, sogar in der Zurücknahme der höchsten Poesie, wenn er wieder in den Wiener Urschoß seiner Muttersprache nun zurückfindet am Ende, wo aller Anfang war. Vor der Zugabe nach dem  großen Beifall endete der Abend mit dem letzten Gedicht des Buches "Wien wörtlich" mit dem Inhalt, daß er das für Wien wichtigste, häufigste Wort ("Leck mi am Oarsch") vergessen habe, weshalb er nun narrisch, zum Narren geworden. Ein Gedicht mit der Überschrift: "Aus Kränkung". Soweit der offizielle Abgang und sein Ende als Narr schon vorweggenommen: Denn er wußte, was noch kam. Der Reichtum des Narren im Beifall, wenn er nichts mehr hat als das Leben vor dem Verstummen.

Fortsetzung folgt 11. Jan. 2003

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