Schröders Differenz oder Die Stimme Europas

Über die Selbstbehauptung des Westens - und über die Verwandlung der deutschen öffentlichen Meinung in ein Kriechtier / Von Peter Sloterdijk
In der aktuellen Ausgabe der österreichischen Magazins "Profil" hat der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk ein umstrittenes Interview gegeben. Als er die zoologische Metapher vom "rogue state" (Schurkenstaat) erläuterte und dabei Sender und Adressaten des Begriffs vertauschte, indem er ihn auf die USA anwendete, klingelten im deutschen Feuilleton die Alarmglocken. Sloterdijk erläutert im Folgenden seine Thesen zum europäisch-amerikanischen Verhältnis, zum "deutschen Weg" und zur insektomorphen Reaktion der Medienöffentlichkeit. FR
Wir erleben heute, gleichzeitig mit der langen, vom chronischen Misstrauen induzierten Talfahrt der Börsenkurse, eine Hochkonjunktur des strategischen Denkens. In jedem Artikelschreiber, der sich an die Aufgabe macht, die Situation der Welt nach dem fatalen Septembertag zu kommentieren, ist ein Feldherr erwacht, der von der Anhöhe seines Schreibtischs herab die Front beobachtet und die Entfaltung der Truppen im Gelände referiert. Mit einem Mal sind auch die geistigen Funktionen der Nation den Gesetzmäßigkeiten der Lagebesprechung eingeordnet; es scheint, als ob unter allen Redegattungen nur noch eine dem Geist der Stunde angemessen sei - die der Tagesbefehle und des strategischen briefing. Dass unter solchen Umständen die Differenzierungen notleidend werden und die Nuancen sterben, wird niemanden wundern, der über die Schicksale des freien Gedankens und seiner Sprache in kriegerischen Zeiten reflektiert. Vereinfache dich und ergreife Partei! lautet der Imperativ im Felde. Wer dem nicht Folge leistet und an kampfunbrauchbaren Unterscheidungen, lästigen Komplexitäten und zögernmachenden Einsichten in Ambivalenzen der eigenen wie der fremden Stellung festzuhalten sich einfallen lässt, riskiert das Schicksal, von den Vereinfachern auf den Hügeln kurzerhand dem feindlichen Lager zugerechnet zu werden. Wer in Zeiten wie den unseren an die Notwendigkeit eines dritten Gesichtspunkts oder an die Freiheit der objektivierenden Untersuchung erinnert, kann darauf rechnen, von den Feldpredigern auf ihre schwarzen Listen gesetzt zu werden. Kein noch so großer, noch so integrer Name ist vor den polemischen Manichäern sicher - selbst Günther Grass, konnte man neulich lesen, habe schließlich die Maske des Biedermanns abgeworfen und sich in seinem wahren Sein bloßgestellt: ein bundesdeutscher Dorian Gray, außen der alterslose Sozialdemokrat, innen der zersetzte Antiamerikaner.
Ein semantischer WeltbürgerkriegDie Hochkonjunktur des Strategizismus ist unvermeidlich auch eine der ungenauen Kollektivnamen. Unter den Ungenauigkeiten, die seit dem 11. September die Sprachspiele der veröffentlichten Meinung bestimmen, ist ohne Zweifel die geläufigste zugleich die schädlichste: Es ist jene, die das Weltschlachtfeld einteilt in ein angreifendes terroristisches Außen und ein angegriffenes friedliebendes Innen, welch letzteres unter inklusiven Titeln wie die "zivilisierte Welt", die "Gesamtheit der Demokratien" oder kurzerhand "der Westen" vorgestellt wird. Wenn man uns durch den Mund von Leitartiklern, Innenministern und Philosophen des engagierten Lebens seit einem Jahr Einberufungsbefehle zum Wehrdienst im semantischen Weltbürgerkrieg zustellt, so geschieht dies immer unter Hinweis auf ein umfassendes westliches Wir, das naturgemäß nicht anders könne, als auf den einseitigen und unmotivierten Angriff der Nihilisten mit der Aufstellung einer koordinierten Abwehrreihe zu antworten. Die Argumente der Männer auf den Hügeln klingen so alarmierend, dass man meint, der Westen, bisher ein Bündel aus träumerischen Pazifisten, müsse tatsächlich in letzter Minute aus dem Schlaf gerissen werden, bevor die Neo-Assassinen im Garten stehen und uns mit gestohlenen Dolchen die Kehle durchschneiden; nur eine rasch etablierte Weltvolksfront der Demokratien unter US-amerikanischer Führung könne die islamfaschistische Angriffswelle in letzter Minute zum Stehen bringen. Im Rückblick auf die große Agitation des letzten Jahres konnte sogar der Eindruck entstehen, erst dieser unvermutete Angriff von außen, der aus den Tiefen eines bösen Mutwillens kommend auf unsere Grenzen prallte, habe "dem Westen" ein Gefühl für seine Einzigkeit zurückgegeben - und seine Anrufbarkeit unter seinem wahren Namen wiederhergestellt. Seit die Türme in sich zusammenfielen, heißt den Westen Westen nennen ihn als Wehrgemeinschaft zusammenfassen und ihn als kreuzzugsfähige Einheit unter eine gemeinsame Fahne rufen, die bis auf weiteres wie die sternengesprenkelte aussieht.
Nun stellen sich beim Vernehmen dieses Rufs Schwierigkeiten ein. Sind es Hörfehler beim Empfänger, sind es Codierungsfehler beim Sender - jedenfalls haben sich schon bald nach der Ausgabe der ersten Tagesbefehle aus dem Hauptquartier Verständigungsprobleme manifestiert. Man konnte das scheinbar eindeutige Signal aus Washington "Achse des Bösen" auf dieser Seite des Atlantiks nicht klar entschlüsseln - die europäisch geeichten Systeme antworteten fast ausnahmslos mit der Rückmeldung: "unverständliche Botschaft", "falscher Codename" oder "unzulässiger Befehl". Auch als aus der Zentrale jüngst die Weisung kam: "den Präventivkrieg als zulässige Option annehmen", fielen die europäischen Empfänger für eine Weile in Schweigen oder reagierten mit Antworten wie "mit uns nicht durchführbar". Ohne die Fakten zu überanstrengen, darf man dies als einen Hinweis darauf lesen, dass sich unter dem Wesensnamen "der Westen" ein größeres Maß an Diversität verbirgt als die inklusiven Sprachspiele der Mobilisateure sichtbar werden lassen. Der Westen - um dessen Selbstbehauptung es zu gehen scheint - zerfällt für heute und alle Zukunft unweigerlich zumindest in den Ersten Westen jenseits des Atlantiks, von dem die imperialen Akzente der Gegenwart ausgehen, und den Zweiten Westen, den wir Europäer bilden und der weiter nach einer politischen Form sucht, die seinem ökonomischen Schwergewicht entspräche, (um für den Augenblick von dem Dritten Westen nicht zu sprechen, zu welchem all die Länder des Ostens und Südens rechnen, die nach unserem Vorbild das Zugleich von politischer Demokratie, kapitalistischer Wirtschaftsweise und konsumistischer Lebensform versuchen).
Nachdem das Wahlkampfgetöse vom deutschen Herbst 2002 vorübergezogen ist, stehen die Chancen besser - wenn auch nicht sehr gut -, dass man bei der Sichtung von jüngeren Politiker-Worten die Irak-Thesen des Bundeskanzlers als die bemerkenswertesten Äußerungen der letzten Zeit erkennen wird. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass die deutsche Gesellschaft nach wie vor ein dankbarer Resonanzkörper für antibellizistische Töne ist - eine Feststellung, die den Deutschen keine Unehre macht, obschon die Autoren auf den Hügeln grollen. Vielmehr wird man Gelegenheit finden, gelassen zu bemerken, dass Gerhard Schröder, als er ein wenig vom deutsch-amerikanischen Porzellan zerschlug, als einziger unter den europäischen Staatsmännern einem wohlverstandenen europäischen Imperativ entsprochen hatte. Es ist und bleibt sein Verdienst, die partielle Nicht-Identität der Interessen des Ersten Westens mit denen des Zweiten unmissverständlich artikuliert zu haben. Dass er dabei keine diplomatische Kreide gefressen hatte, kann sich auf längere Sicht als sinnvolle Provokation herausstellen. Dieses harte Berliner "Mit-uns-nicht" - gleichgültig was in der Pragmatik des kommendes Jahres daraus wird - hebt nicht so sehr eine deutsch-amerikanische, sondern eine europäisch-amerikanische Differenz ins Profil. Deren Offenhaltung und Klärung wird für beide Seiten von Bedeutung sein. In diesem Sinn muss man gerade in dem Undiplomaten Schröder einen legitimen Sprecher des europäischen Typs von Westlichkeit sehen. Auch Schröders für manche Bedenkenaussteller und hysterische Historiker ärgerliche Wort vom "deutschen Weg" wird erst durch sein ruhiges, immanent europäisches Format verständlich. Es stammt, wie jeder weiß, von einem Mann, der weder Chauvinist noch Anti-Amerikaner ist, sondern ein Politiker, der trotz langjährigem Aufenthalt in politischen Milieus noch immer zwischen einem Land und den Kapricen einer Regierung unterscheiden kann.
Eben hier fangen die deutschen Sondersorgen an. Durch die Medien unseres Landes läuft dieser Tage eine (wie üblich) durch Selbstgleichschaltung gesteuerte Welle der nachträglichen Entrüstung über Schröders angeblich ungedeckten Alleingang in der Irak-Affaire. Es ist, als habe man einen Politiker beim Unterscheiden ertappt - und wolle ihn für diese unbefugte Ausübung von Urteilskraft im Amt zur Rechenschaft ziehen. Dabei wird ein Vorwurf erhoben, der seiner Machart nach für eine der interessantesten, wenn auch gefährlichsten Mutationen im Argumente-Haushalt der zeitgenössischen politischen Kultur zeugt: Ich spreche konkret von der Behauptung, der Kanzler habe an der kollektiven Stimmungsbörse spekuliert und mit seinen spitzen Thesen gegen den Irak-Krieg der USA aus einem dumpfen Fundus an Anti-Affekten geschöpft - und dabei Stimmen dazugewonnen! Was an diesem Argument, von dem wenig erhellenden Inhalt abgesehen, bemerkenswert ist, zeigt sich in seiner groben und raffinierten Bauweise. Mit ihm dringt eine neue Form von Psychoanalyse ins Feuilleton und den Leitartikel ein, diesmal ganz ohne Couch und freie Assoziation, gestützt nur auf die Deutungshoheit des Analytikers. In dem neuen Setting - von einer schlechten Literaturwissenschaft eine Generation lang an Dichtertexten vorexerziert - übt der Tiefen-Leitartikler die Deutungsvollmachten aus, die ihm durch das so schlichte wie effektvolle Instrument in die Hand gelegt werden. Dem Anwender des Schemas steht es frei, die Meinungen beliebiger Personen auf ein unbewusstes oder halbbewusstes Sinn-Plasma zurückzuführen, von dem man - wie beim Original-Unbewussten der Wiener Psychoanalyse - die Annahme macht, es dränge von sich her auf eine Wiederkehr im Manifesten.
Aber wie es dort eine Traumzensur und erst recht eine Filterung unbewusster Vorstellungen durch das wache Ich gibt, soll es nun bei dem neu festgestellten politischen Unbewussten der Deutschen eine parlamentarische Zensur geben und erst recht eine Klartextzensur, die dafür sorgt, dass nichts von dem, was es in der Tiefe denkt, auf der Druckplatte erscheint. Damit entsteht, vorsichtig gesprochen, demokratietheoretisch eine prekäre Situation. Wenn die Demokratie auf der Unterstellung der Freiheit von Meinungsäußerung beruhte, war damit auch beschlossen, dass man sich im politischen Raum explizit auf das Ausgesprochene beschränkt - in der Annahme, dass die extensiv ausgeübte Redefreiheit die Entwicklung unterirdischer Blasen von Ungesagtem überflüssig macht.
Kultur des verschärften VerdachtsIn der aktuellen Kultur des verschärften Verdachts wird mehr und mehr davon ausgegangen, dass Sprecher im semantischen Bürgerkrieg nicht sagen, was sie meinen - oder was es in ihnen meint. Infolgedessen ist ein Tiefenfeuilleton vonnöten, das uns darüber aufklärt, was da hinter den Äußerungen der Redner hervorkriecht - : Abkömmlinge eines in der Latenz angesammelten Sinn-Plasmas, das überall mitredet und das Entscheidende besagt. Die eigentliche Meinung ist also etwas, das heute wesenhaft nur in einem kriechenden Modus ans Tageslicht gelangt, zum einen, weil Indirektheit zum Stil des Unbewussten gehört, zum anderen, weil das politische Unbewusste oder Verhohlene zugleich das Unkorrekte, Giftige, Unzulässige ist, das, von taktlosen Direktausbrüchen abgesehen, nur im Modus des Aussickerns und Hervorkriechens aus seiner Verborgenheit treten kann. Die primären versteckten Plasmen, die von der neuen Sicker-Analyse nachgewiesen werden, sind unvermeidlich Antifeminismus, Antiamerikanismus, Antisemitismus. Eine schlimme Trinität, von der die Experten behaupten, auch sie bilde im Grunde eine Einheit. Im Fall Schröders scheint die Diagnose klar: Indem er sich von der Irak-Politik der USA distanzierte, hat er zahllosen Einzelnen Gelegenheit geboten, ihrem antiamerikanischen Unbewussten Ausgang zu geben. Da krochen - glaubt man den diplomierten Analytikern der deutschen Seele - Millionen kleiner Meinungsreptilien aus ihren Schlupflöchern hervor und ringelten sich für ein paar schamlose Minuten in der Sonne.
Vergleichbares meinten vor wenigen Monaten gewisse Leser von Martins Walsers Roman Tod eines Kritikers zu beobachten, in dem vorgeblich antisemitische Untertöne vernehmlich werden, wenn man nur genug von dem, was dasteht, abstrahiert; der österreichische Lyriker Robert Schindel reimte im Zenith des Konflikts um Walser ein paar Verse im Stil des wackeren Hans Sachs, in denen er sein zur Diagnose erhöhtes Gefühl festhielt, da krieche das "Reptil Judenhass" durch ein Buch ans Freie. Als Sachbehauptung von Grund auf falsch, ist Schindels Formulierung als Metaphernschöpfung ein fabelhafter Treffer: Nie zuvor ist das aktuelle Paradigma des Meinungsstreits in Deutschland so luzide ins Bild gefasst worden. Wir haben es auf breiter Front mit einer Reptilisierung der öffentlichen Meinung zu tun - und mit einer Vorverlegung der politischen Diskussion aus den Parlamenten ins Entlarvungsfeuilleton.
Es ist Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen: In der Korrektheitsepoche hat jede "eigentliche Meinung" von sich her die Struktur eines abgedrängten Hintergedankens; naiv, wer weiter glaubt, Meinungen seien darauf angelegt, ausgesprochen zu werden; immerhin gehört es zu ihrer Natur, aus Löchern zu kriechen, wo sie gelauert haben, oder aus dem bekannten Schoß, fruchtbar noch. Der Ärger mit diesen eigentlichen Meinungen ist allein, dass sie nur vertreten werden können, indem man behauptet, ein anderer habe sie, vertrete sie aber nicht. So ist der Krieg, der große Vereinfacher, der alles verwirrt, in den deutschen Köpfen angekommen. Da aber der Mensch ein meinendes Tier ist, wird auch hierzulande das Meinungsleben irgendwie weitergehen. Schon sind unzählige in die Meinungslosigkeit ausgewichen - und entwickeln Hintergedanken über jene, die in den meinenden Berufen tätig sind. Für die geschichtlich Interessierten wird man demnächst im Nachtprogramm Filme von westlichen Menschen zeigen, die sorglos wie Verbrecher sagten, was sie über Frauen, Amerikaner und Juden dachten. Die sorglosesten unter diesen westlichen Menschen von einst, wird man erstaunt bemerken, werden Juden, Amerikaner und Frauen gewesen sein, wir werden Heimweh nach ihnen haben und wünschen, wir hätten in ihrer Zeit gelebt.
Von Peter Sloterdijk ist zuletzt erschienen "Luftbeben. An den Wurzeln des Terrors" (Suhrkamp 2002). Der erste Band seines "Sphären"-Projekts (Suhrkamp 1998, 1999) ist kürzlich in Frankreich erschienen und hat ein großes Echo ausgelöst.
 
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 26.09.2002 um 21:06:11 Uhr
Erscheinungsdatum 27.09.2002
 

 

 


Peter Sloterdijk legt einen Scheit nach: In einer langen Stellungnahme bekräftigt er nicht nur die Thesen seines umstrittenen Profil-Interviews (Sloterdijk bezeichnete die USA darin als "rogue state"), sondern setzt noch munter einen drauf. Er geißelt die "Hochkunjunktur des Strategizismus" und die "Weltvolksfront der Demokratien", er lobt das Nein Schröders zu einem Irak-Krieg und spricht von einem "semantischen Bürgerkrieg", in dem sich keiner traut, offen seine Meinung zu sagen. "Die eigentliche Meinung ist also etwas, das heute wesenhaft nur in einem kriechenden Modus ans Tageslicht gelangt, (...) weil das politisch Unbewusste oder Verhohlene zugleich das Unkorrekte, Giftige, Unzulässige ist, das, von taktlosen Direktausbrüchen abgesehen, nur im Modus des Aussickerns und Hervorkriechens aus seiner Verborgenheit treten kann."


Die zweite Chance
Über die Einrichtung eines Bundesministeriums für Kultur sollte jetzt ernsthaft nachgedacht werden. Ein Plädoyer
Immerhin: Niemand scheint daran interessiert zu sein, das Amt des Staatsministers für Kultur wieder abzuschaffen. Irgendwie haben sich alle an dieses Fastministerium, das um die seltsam verquast benannte Stelle eines "Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und Medien" herumgebaut wurde, gewöhnt. Auch das kann man ja zunächst einfach mal festhalten, zumal sie bei ihrer Einführung 1998 nicht nur für intellektuelle Aufbruchstimmung, sondern auch für Irritation gesorgt hat. Allerdings ist vor dem Hintergrund der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen die Diskussion um den Zuschnitt dieser Stelle wieder aufgeflammt.
Ausgangspunkt ist ein Vorstoß der Grünen. Sie regen an, aus dem Quasiministerium ein richtiges Ministerium zu machen, andere Länder - Frankreich! - haben so etwas schließlich auch. Eine Kandidatin wird gerüchteweise auch gehandelt: Antje Vollmer, zuletzt Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages mit großen Ambitionen für die Belange der Kultur.
Sogleich aber regt sich Widerstand gegen die Aufwertung des Bundesbeauftragten zum Bundesminister - wie auch immer er oder sie auch heißen möge. Doch die dabei angeführten Argumente sind bei Licht betrachtet ziemlich fragwürdig. Der Deutsche Kulturrat etwa hält ein Bundeskulturministerium für undenkbar, weil es zu wenig Kompetenzen habe. Im gleichen Atemzug aber fordert der Kulturrat eben die Ausweitung der Kompetenzen. Nach den Vorstellungen seines Vorsitzenden Max Fuchs soll der Bundesbeauftragte auch die Belange der auswärtigen Kulturpolitik vertreten, bislang liegen sie beim Außenminister. Das aber ist doch interessant. Wenn man alle Aufgaben des Bundes nach Kompetenzen durchforstet, die bei einem Bundeskulturminister gut aufgehoben wären, wird man auf so viele stoßen, dass sich die Argumentation von Max Fuchs von selbst erledigt.
Hans Zehetmair, bayerischer Kulturminister, stößt ins selbe Horn wie der Kulturrat. Auch er fordert, die Zuständigkeit für die auswärtige Kulturpolitik zum Bundesbeauftragten zu verlagern, auch er lehnt aber einen Bundeskulturminister ab. Denn: "Etwas, was es nach der Verfassungslage nicht gibt, braucht kein eigenes Ministerium." Damit spielt Zehetmair auf die Kulturhoheit der Länder an. Das aber ist eine Argumentation nach dem Motto, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe; ihr zufolge dürfte es allerdings auch schon keinen Bundesbeauftragten für Kultur geben. Den aber - schlicht, aber wahr - gibts. Warum also keinen Kulturminister?
Stimmt schon, großen Glanz verbreitet die Kulturpolitik der Bundesregierung derzeit nicht. Aber warum sich der Möglichkeit versperren, den Schwung des zweiten Anfangs zu nutzen und dies zu ändern? Was spricht dagegen, Kompetenzen zu bündeln? Was spricht gegen die Umschichtung von Haushaltsmitteln in Richtung Kultur? Wer hier den Kampf gar nicht erst aufnimmt, verpasst von vornherein eine Chance. Über die Einrichtung eines Bundesministeriums für Kultur sollte ernsthaft nachgedacht werden. DIRK KNIPPHALS
taz Nr. 6864 vom 27.9.2002, Seite 17, 103