Chronistenpflicht
DIE ZEIT
Feuilleton 40/2002

Letzte Ölung für Einar Schleef
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Das Berliner Ensemble inszeniert den Monolog "Gertrud" als sehr, sehr lange Klage
von Evelyn FingerZur Beerdigung geht man nicht in Gummistiefeln. Da kann es regnen, regelrecht schütten - man geht gemessenen Schrittes, schweren Herzens. Aber man macht sich dabei so seine Gummistiefelgedanken: dass die Kranzschleifen vom Wind schon völlig zerzaust sind; dass Plastikblumen vielleicht besser gewesen wären. Große Gefühle und praktische Erwägungen gehören ursprünglich zusammen. Das Leben als disparate Gegend würde aber gar keiner entdecken, wenn nicht alle Jubeljahre ein Dichter vorbeikäme. Einar Schleef beispielsweise, ein Aufklärer aus Mitteldeutschland, was ja auch eine disparate Gegend sein soll, so viel Kultur neben so viel Dreck. Schleef, in Sangerhausen geboren, später Bühnenbildner in Berlin, Regisseur in Ost und West, hat die verborgene Innenwelt der DDR kartografiert, hat gesehen, was keiner wahrhaben wollte, und ist darum immer wieder irgendwo rausgeflogen, zweimal allein am Berliner Ensemble.
Dort wird der Mann, dessen kleine Erzählung vom verregneten Friedhofsbesuch (Tod des Lehrers) bereits ein Abgrund an Bitterkeit, Weisheit und Komik war, soeben zu Tode beerdigt. Man muss ihm wohl gratulieren, dass er, seit nun einem Jahr, mausetot ist. Denn diese Art Grablegung soll einer nicht miterleben müssen: Gertrud. Ein Totenfest heißt die auf 20 Seiten geschrumpfte und auf zwei endlose Stunden gedehnte Bühnenfassung des Großmonologes, in den Schleef sein Heimweh, sein Schuldgefühl gegenüber der in Sangerhausen zurückgelassenen Mutter, seine Hassliebe zum Ort der Kindheit einschrieb. Das Prosawerk Gertrud reichte vom Kaiserreich bis in die späte DDR. Vom Kyffhäuser bis Leuna. Von Wut bis Galgenhumor.
Doch Edith Clever spielt nur das Lamento einer einsamen Greisin mit Helene-Weigel-Frisur und stilisiertem Proletenkostüm. In pathetischem Halbdunkel, durch funzeliges Scheinwerferlicht ins Heiligmäßige entrückt, deklamiert sie einen Text, der sich zum Deklamieren eignet wie ein Regenschirm als Krinoline. Aus Schleefs schroffer Poesie sollen goldene Worte werden, deshalb spricht Edith Clever mit ganz spitzem Mund, veredelt das "Ich" zum "Üch", das "Glänzen" zum "Glönzen", lächelt süß bei "Kindheit" und senkt den Kopf an traurigen Textstellen. Was Drama, was Figur war, zerbröckelt in zusammenhanglose Wörter. Ohne Geschichte kann es aber keine Gertrud geben; sehr geholfen hätte auch eine leise Ahnung von Schleefs Landwüst, jenem ödem Allerweltsbezirk, den noch andere Dichter beackert haben: Volker Braun hisste hier Rauchfahnen, Heinz Czechowski lief hier im Kreis, Schleefs Bande steckte in qualmenden Autokolonnen fest. Disparate Gegenden waren das, aber immer Welten. Seelische, philosophische, politische, anschauliche. In Schleefs Sprache poltert Luther, singt Klopstock, und Nietzsche wohnt gleich nebenan. Am BE dagegen ist nur hohle Prätention, affektierte Gebärde. Viel Pietät, aber kein einziges Paar Gummistiefel.


Donnerstag den, 26.September

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Mit triefendem Sarkasmus macht der Florence Fund, eine liberale Stiftung mit Sitz in Washington, auf seiner Internet-Seite Tompaine.com mit einer Karikatur Front gegen einen Angriff der USA auf den Irak. In Uncle-Sam-Pose fordert Terror-Fürst Osama Bin Laden den Krieg: "Gebt mir eine neue Generation von Rekruten. Eure Bomben werden ihren Hass auf Amerika und ihr Verlangen nach Rache befeuern. Amerikaner werden nirgendwo sicher sein. Bitte, greift den Irak an. Lenkt Euch selbst vom Kampf gegen al-Qaida ab. Spaltet die internationale Gemeinschaft. Destabilisiert die Region. Vielleicht fällt Pakistan - wir wollen seine Atomwaffen. Gebt Saddam einen Grund, zuerst anzugreifen. Er könnte Israel in einen Kampf hineinziehen."


Donnerstag, 26.9.2002









Ein glänzendes Gerücht
Warum nicht Vollmer? Plädoyer für eine Bundeskulturministerin

An einem, wahrscheinlich nur an diesem einen Ort der Republik hat ein Streit um Kultur das Wahlergebnis beeinflusst. 10,3 Prozent der Zweitstimmen konnten die Grünen in Weimar gewinnen, 2,1 Prozent mehr als vor vier Jahren. Schuld daran ist die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, die seit Monaten den Intendanten des Deutschen Nationaltheaters im Kampf um den Erhalt seines Hauses unterstützt.
Seit der Wahlentscheidung kursiert in Berlin das Gerücht, Antje Vollmer könnte Bundeskulturministerin werden, eine Vorstellung, die in der müden Kulturszene der Hauptstadt für Erregung sorgt. Die Vernunft verbietet es, das Gerücht ganz ernst zu nehmen. Weder haben sich die Grünen bisher um das Kulturressort gerissen, noch kann man Antje Vollmer eine besondere Nähe zum Kanzler oder Bundesaußenminister nachsagen. Und doch ist es ein sehr verführerisches Gerücht: Warum eigentlich nicht Vollmer? Wer denn dann?
These, Antithese, Synthese
Gewiss könnte Julian Nida-Rümelin das Ressort verlässlich weiter führen. Allerdings stehen ihm auch andere Wege offen. Die Universität Göttingen wäre froh, wenn er auf seinen Lehrstuhl für Philosophie zurückkehren würde, ein Ruf an die Universität München ist nicht ausgeschlossen. Nida- Rümelin hat den Philosophen immer strikt vom Amtsinhaber getrennt und zugleich viel dafür getan, im Fach präsent zu bleiben. Eine Rückkehr in denBeruf wäre für ihn keine Niederlage.
Ausgeschlossen scheint es allerdings, dass Antje Vollmer aus ihrem hellen Büro mit Blick auf den Reichstag in das verbaute Zimmer fast ohne Aussicht ziehen könnte, das Julian Nida-Rümelin im Kanzleramt zugestanden wurde. Als dessen Nachfolgerin kann man sie sich nur schwer vorstellen, wohl aber als erste Bundeskulturministerin mit eigenem Haus, in dem alle Kulturkompetenzen des Bundes verwaltet werden. Wegfallen könnte dann endlich die scheußliche Amtsbezeichnung: „Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und Medien“, ein Name, dem die Aura allzuständiger Machtlosigkeit und einer diffus verdrucksten Verlegenheit anhaftet, die „Kultur“ und „Bund“ nicht in einem Atemzug nennen kann, ohne sie in bürokratische Sicherungsverwahrung zu nehmen.
Als im Herbst 1998 Michael Naumann zum ersten Kulturstaatsminister ernannt wurde, hat er viel Staub aufgewirbelt, verwirrt, aufgetrumpft und – ohne Staatsklugheit – dafür gesorgt, dass man sich an das neue Amt gewöhnte. Wo so viel Rauch aufstieg, musste doch auch ein Feuer glimmen. Geschickt, gemäßigt und erfolgreich hat Naumanns Nachfolger dafür gesorgt, dass das Feuer nun dauerhaft brennt und ständig unterhalten wird. Man hat sich an die gleichmäßige Wärme gewöhnt und vermisst doch den Glanz, das Flackern.
Wenn die Welt Hegelschen Gesetzen folgen würde, könnte kein Zweifel daran bestehen, dass nun Antje Vollmer Bundeskulturministerin werden muss, Anregbarkeit und Verwaltungsgeschick vereinigend. Sie besitzt Erfahrung im Durchsetzen aussichtslos scheinender Pläne und eine besondere Leidenschaft für die „Angelegenheiten der Kultur“.
Ihr Engagement für das Weimarer Theatermodell war mit der Hoffnung verbunden, hier eine Wende einzuleiten, einen Weg zu finden, um die deutsche Stadttheaterlandschaft insgesamt zu retten. Sie hat diese kurzerhand ein „Weltkulturerbe“ genannt und zugleich ihrem Ärger wie ihrer Langeweile angesichts der zur Routine gewordenen Publikumsbeschimpfung im Theater Luft gemacht.
Niedlich war immer das erste Wort, wenn man an die Kultur der Grünen dachte. Deren Ressentiment gegen das Bürgerliche, Tradierte hat Antje Vollmer nie geteilt. So sprach sie sich auch zum Ärger vieler Fraktionskollegen für die Rekonstruktion barocker Fassaden am Berliner Schlossplatz aus. Eine Konservative in grüner Verkleidung? Wenn ihr Kunsturteil konservativ ist, so ist es dies aus anarchischer Lust an der Freiheit. Um die symbolische Kraft, die Ausstrahlung eines Kulturministeriums müsste man sich unter ihr wohl kaum sorgen.
Aber kann die Einrichtung eines Bundeskulturministeriums überhaupt gelingen? Denn nur unter dieser Bedingung lohnt es sich, über neue Personen nachzudenken. Kann jetzt die Bündelung der Kompetenzen gelingen, die 1998 misslang? Dazu müsste der Außenminister auf die Zuständigkeit für die auswärtige Kulturpolitik verzichten, und ein neues Ministerium würde selbstverständlich einen höheren Etat benötigen.
Und selbst wenn die Bundesregierung dies wollte, bliebe die Frage, ob die Länder bereit wären, dem zuzustimmen, ob zumal der reiche Süden das kulturelle Engagement des Bundes zulassen will, von dem der arme Nordosten besonders stark profitiert. Der vernünftige Plan, die Bundeskulturstiftung und die Kulturstiftung der Länder zu vereinigen, ist vor der Sommerpause heftig attackiert worden. Noch läuft die Entflechtungsdebatte, in der schon die Staatskanzleien der Länder oft andere Positionen vertreten als die Kultusminister.
Ein Bundeskulturministerium wäre in dieser Situation für die rot-grüne Regierung eine Gelegenheit zu zeigen, dass sie in der Kulturpolitik nicht so matt weiter machen will wie bisher. Aber es ist ja nur ein Gerücht. Was sonst?
JENS BISKY
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Artikel aus profil Nr. 39/2002
„Kohls Erbe wirkt bis heute nach“
Philosoph Peter Sloterdijk über die deutschen Wahlen, das Epochenprojekt Rot-Grün, den „Schurkenstaat“ USA und die Hysterie vom 11. September.
profil: Vor die Wahl zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber gestellt, welche Wahl hatte man da eigentlich?
Sloterdijk: Die Alternative Schröder-Stoiber wurde im Wahlkampf zwar hartnäckig als Richtungswahl verkauft, doch in Wahrheit handelte es sich um eine reine Kanzlerwahl. Die polemischen Zuspitzungen waren ein Ausdruck des systemüblichen Polarisierungsprozesses, nach welchem man einer Wählerschaft alle vier Jahre suggeriert, sie solle sich anders entscheiden als beim letzten Mal. Stoiber und die Union mussten deshalb alles daransetzen, die Suggestion aufrechtzuerhalten, Schröder sei abwählbar und durch einen Kandidaten ersetzbar, der manches anders und manches besser machen könnte.
profil: Wie konnte denn die konstitutive Blassheit von Stoiber so gespenstisch auf Schröder abfärben?
Sloterdijk: Schröder ist bekanntlich am besten, wenn er den ganzen Platz für sich allein hat. Gegen einen Kandidaten wie Stoiber antreten zu müssen hatte für ihn wohl auch etwas Kränkendes, denn er ist von dem glücklichen Selbstbewusstsein erfüllt, der Richtige und zurzeit auch der Einzige zu sein, der es kann, und die Zumutung, Stoiber als echte Alternative gelten zu lassen, muss auf ihn eine lähmende Wirkung ausgeübt haben. In Stoiber einen echten Rivalen sehen zu müssen war für ein Alphatier wie Schröder eine Beleidigung.
profil: Zu Beginn seiner Amtszeit ließ sich Schröder als Medienkanzler feiern. Im Wahlkampf wirkte er eher wie ein Kanzlermedium. Ist diese Metamorphose im politischen Spitzenleistungssport unvermeidlich?
Sloterdijk: Tatsächlich kann jemand, der ein Amt sehr lange innehat, in gewisser Weise ein Automat dieses Amtes werden, doch vier Jahre sind dafür eine zu kurze Zeit – obwohl man gegen Ende des Wahlkampfs in Schröders Gesicht etwas sah, was man früher nie gesehen hatte, nämlich eine gewisse Müdigkeit. Der Tribut, den er durch beschleunigtes Altern an diesen Hochleistungsjob entrichten musste, wurde schließlich auch visuell erkennbar, was etwas Rührendes hat bei einem Mann, der so eine immergrüne Aura zu besitzen scheint wie Schröder.
profil: Neben Schröder hat die rot-grüne Ära einen zweiten Star hervorgebracht: Außenminister Joschka Fischer. Wie beurteilen Sie dessen Wandlung vom gewaltbereiten Sponti zum Superstaatsmann?
Sloterdijk: Das ist ein Kapitel deutscher Nachkriegs-Aufsteigerpsychologie. Fischer repräsentiert die Bundesrepublik in ihrem biografisch und bildungsgeschichtlich erfolgreichen Aspekt: ein Selfmademan, der quasi auf dem zweiten Bildungsweg regierungsfähig geworden ist, was in gewisser Weise auch für Schröder gilt, nur dass Schröder mehr als Fischer innerhalb der Konturen seiner ersten Natur geblieben ist. Er konnte seiner sanguinischen Machtliebe ohne große menschliche Deformation treu bleiben. Bei Fischer habe ich den Eindruck, dass eine psychische Infektion stattgefunden hat und dass ihm die Konversion in die Seriosität nicht ganz ohne Verfälschung gelungen ist. Ich bin sicher nicht der Einzige, der sich mit einer gewissen Wehmut an den dicken Fischer erinnert und den Marathonmann und Außenminister Fischer als eine Art psychoanalytischen Sozialfall betrachtet.
profil: Gerade auch unter Kulturschaffenden und Intellektuellen herrschte vor vier Jahren ein breiter Konsens darüber, dass die Wende fällig sei. Was ist davon geblieben?
Sloterdijk: Es galt damals, eine 16 Jahre dauernde Epoche zu beenden. Helmut Kohl war überfällig, und er hätte sich und der CDU einen großen Gefallen getan, wenn er schon vier Jahre früher gegangen wäre, weil er damit die regenerativen Funktionen innerhalb seines eigenen Lagers animiert hätte. Mit seinem alles erdrückenden Schwergewicht war er zu lange präsent gewesen, und das hat sich schließlich auch auf die Gesamtstimmung in der Bevölkerung niedergeschlagen. Deutschland ist ein Land von ungeheurem strukturellen Konservatismus, das wie kein anderes von Sicherheitsdenken und Schwerfälligkeit bestimmt wird. Das Mentalerbe der Kohl-Ära wirkt bis heute nach.
profil: Erklärt das auch die tiefe Ernüchterung, die den Wahlkampf und dessen Rezeption über weite Strecken prägte?
Sloterdijk: Vier Jahre sind für eine echte atmosphärische Änderung in einer Gesellschaft einfach zu wenig. Die Ernüchterung rührte daher, dass man gerade am rot-grünen Beispiel sehr gut ablesen konnte, wie eng der Spielraum ist, in dem Politik sich heute bewegt. Man ist endgültig aus dem Zeitalter der großen Alternativillusionen herausgetreten und muss sie durch ein kühles Sachfragenbewusstsein ersetzen, in dem es dann allerdings auch echte Alternativen gibt: die Frage etwa, ob man den Ausstieg aus der Atomenergie durchsetzt oder wieder rückgängig macht. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist ein Epochenthema, das man nicht verludern lassen darf. Acht Jahre wären meiner Ansicht nach das Mindeste, worauf eine Regierung mit so einem ambitionierten Projekt wie die rot-grüne Koalition Anspruch haben sollte. Die Ankündigungen der Union, im Falle eines Wahlsieges einen Großteil der rot-grünen Gesetzgebungsleistung zurückzunehmen, halte ich für fatal.
profil: Daraus ist unschwer zu schließen, dass Sie am Sonntag Rot-Grün gewählt haben.
Sloterdijk: Ich habe wie vor vier Jahren Grün gewählt, weil ich keinen Grund sah, an meinem Meinungsbild etwas zu korrigieren. Ich war von manchen Einzelbesetzungen in der Schröder-Regierung zwar nicht sehr begeistert, aber angesichts der Alternativnominierungen in Stoibers so genanntem „Kompetenzteam“ fiel mir die Wahl nicht schwer.
profil: In den letzten Wochen des Wahlkampfs brachte Gerhard Schröder das Schlagwort vom „deutschen Weg“ ins Spiel, wofür er doppelt kritisiert wurde: von den Linken, weil sie nationalistische Tendenzen witterten; von den Rechten, weil sie die westliche Bündnistreue infrage gestellt sahen. Was hat die Formel vom „deutschen Weg“ bei Ihnen zum Klingen gebracht?
Sloterdijk: Deutschland ist nach dem Krieg groß geworden in einer Rhetorik der Leugnung deutscher Sonderwege. Wir haben uns quasi selbsttherapeutisch europäisiert und eine Art Quarantäne über die deutsche Mentalität verhängt, wenn es darum ging, nationale Interessen auszusprechen.
profil: Um damit auch krampfhaft Normalität zu simulieren?
Sloterdijk: Bis tief in die Ära Kohl hinein war deutsche Außenpolitik von dem Bewusst- sein geprägt, dass wir uns auf einer Sonderschule der Demokratie den Abschluss erst mühsam erarbeiten mussten. Schröder war, wenn man so will, der erste Kanzler der Normalität. Mit seiner Wahlkampfwendung vom deutschen Weg wurde sozusagen die Heimkehr der deutschen Demokratie in die Familie der nicht neurotischen Gesellschaften gefeiert. Darüber sind die ideologischen Sozialarbeiter und politischen Psychotherapeuten der Deutschen naturgemäß unglücklich, weil sie einen Patienten verlieren, an dem ihnen sehr viel lag und der sich so leicht nicht durch einen anderen ersetzen lässt. Schröders „deutscher Weg“ besticht vor allem auch durch die Selbstverständlichkeit seines Klangs, weil man weiß, dass hier kein Chauvinist oder Anti-Europäer spricht, sondern einer, der ganz deutlich signalisiert, dass im Bereich der deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden muss. Die Fähigkeit, zwischen den USA als kulturell verbündetem Projekt und der Bush-Administration zu unterscheiden, halte ich für eine elementare Tugend der deutschen Demokratie von heute.
profil: Eine spezifische Ausprägung dieses deutschen Weges war Schröders Weigerung, sich der amerikanischen Kriegsrhetorik gegen den Irak anzuschließen.
Sloterdijk: Das deutsche Nein in dieser Angelegenheit ist vor allem eine symbolisch-moralische Position, eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit dem Sonderweg der USA. Der Begriff „rogue state“, mit „Schurkenstaat“ übrigens eher unglücklich ins Deutsche übersetzt, hat in der westlichen Politik seit einigen Jahren Hochkonjunktur. In der Biologie steht „rogue“ für das wieder ausgewilderte Einzelgängertier, das abseits von der Herde durch den Busch streift. Die beiden „rogue states“ der gegenwärtigen Weltpolitik sind, so gesehen, die USA und Israel, die jede Art von Alignment mit der internationalen Staatengemeinschaft aus dem Grundansatz ihres Selbstverständnisses heraus ablehnen, weil sie beide davon ausgehen, dass Nicht-Israelis beziehungsweise Nicht-Amerikaner sich in die besondere Situation dieser beiden Länder nicht einfühlen können. Das bestärkt sie auch in ihrer Neigung, die Fähigkeit zum Selbstmandat in einem überdurchschnittlichen Ausmaß auszuüben.
profil: Im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde gern der pathetische Satz bemüht, nichts werde mehr so sein wie vorher. Hat „Nine-Eleven“ die Welt tatsächlich nachhaltig verändert?
Sloterdijk: Es gibt nicht nur sich selbst erfüllende Prophezeiungen, sondern auch sich selbst erfüllende Hysterisierungen. Sowohl die Sozial- als auch die Individualpsyche hat in weiten Teilen ihres Funktionslebens eine autohypnotische Struktur: Der Mensch wird, was er hört, und die Öffentlichkeit wird, was sie liest. Die Psychologisierung des öffentlichen Raums durch Massenmedien ist eine der Primärrealitäten einer Zeit, in der es Massenmedien gibt. Seit dem 11. September 2001 hat sich die westliche Welt in ein großes Labor autoplastischer Suggestion verwandelt, in dem das Modellieren mit pathetischem Material zu einer Massenbeschäftigung geworden ist. Gegen diese Hysteriezumutungen hilft meiner

Aus dem Hause der Michael Naumann und Co. was anders erwartet? Schleef der Aufklärer? Hölderlin über 40 Jahre Turmexil heute im restaurierten Turm der Zeit am verseuchten Fluss ohne Menschen wie eh und je. Hölle nach 45 in Deutschland Ost und West vereint. Was wäre Schleef ohne O Haupt voll Blut und Wunden und die Himmel rühmen, was das Theater ohne Gesang am Ende aller Bewegungen zum Bilde gewordener Exerzitien-Gerichte ganz oben, de profundis, wovon er wusste. "Höchste Kammermusik", warum sonst ihn ehren. Der Einzige sonst.

 

Meinung nach nur ein Stück nachgereichter Kaltblütigkeit.
profil: Mit anderen Worten: Der 11. September lässt Sie heute so kalt wie vor einem Jahr?
Sloterdijk: Ich bin so betroffen wie irgendwer. Ich gehöre aber Gott sei Dank einer Gruppe von Menschen an, die mit dem 11. September seit jeher den Geburtstag Theodor W. Adornos verbunden haben, und halte an der Einschätzung fest, dass diese Assoziation unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten weiterhin die wichtigere bleibt. Im Übrigen gibt es nach dem 11. September immer auch einen 12., an dem das autohypnotische Schaumwerk wieder in sich zusammenfällt.
Interview: Sven Gächter
Autor: Sven Gächter; Foto: Manfred Klimek
© profil bzw. profil Online - Wien, 2002.


Mittwoch, 25.9.2002

 




Donnerstag, den 26.September






Deutsches Urteil
Noch ein Meister des Vergleichs: Peter Sloterdijk zu USA und Israel

Peter Sloterdijk hat in einem Interview mit dem österreichischen Magazin profil, das gestern veröffentlicht wurde, kluge Anmerkungen zur Bundestagswahl, zum Epochenprojekt Rot-Grün und zur Erblast der Ära Kohl gemacht. Dann aber, in einer erstaunlich vorbehaltslosen Lobrede zur Politik und auch zum Naturell Gerhard Schröders, trägt ihn diese Apologetik bei einem heiklen Punkt aus der Kurve. Als ob es das Gesetz einer unheimlichen Serie so will, greift auch hier wieder ein deutscher Intellektueller zum falschen, desavouierenden Vergleich, um ein richtiges Anliegen zu charakterisieren. Er bezeichnet Israel und die USA als die „rogue states“, als die Schurkenstaaten der Weltpolitik.
Um seine Pointe zu verstehen, muss man ihn ausführlich zitieren: „Bis tief in die Ära Kohl hinein“, erläutert er zunächst, „bis tief in die Ära Kohl war deutsche Außenpolitik von dem Bewusstsein geprägt, dass wir uns auf einer Sonderschule der Demokratie den Abschluss erst mühsam erarbeiten mussten. Schröder war, wenn man so will, der erste Kanzler der Normalität. Mit seiner Wahlkampfwendung vom deutschen Weg wurde sozusagen die Heimkehr der deutschen Demokratie in die Familie der nicht neurotischen Gesellschaften gefeiert. Darüber sind die ideologischen Sozialarbeiter und politischen Psychotherapeuten der Deutschen naturgemäß unglücklich, weil sie einen Patienten verlieren, an dem ihnen sehr viel lag und der sich so leicht nicht durch einen anderen ersetzen lässt. Schröders ,deutscher Weg‘ besticht vor allem auch durch die Selbstverständlichkeit seines Klangs, weil man weiß, dass hier kein Chauvinist oder Anti-Europäer spricht, sondern einer, der ganz deutlich signalisiert, dass im Bereich der deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden muss. Die Fähigkeit, zwischen den USA als kulturell verbündetem Projekt und der Bush-Administration zu unterscheiden, halte ich für eine elementare Tugend der deutschen Demokratie von heute.“
Darauf wirft profil ein: „Eine spezifische Ausprägung dieses deutschen Weges war Schröders Weigerung, sich der amerikanischen Kriegsrhetorik gegen den Irak anzuschließen.“
Und Sloterdijk: „Das deutsche Nein in dieser Angelegenheit ist vor allem eine symbolisch-moralische Position, eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit dem Sonderweg der USA. Der Begriff ,rogue state‘, mit , Schurkenstaat‘ übrigens eher unglücklich ins Deutsche übersetzt, hat in der westlichen Politik seit einigen Jahren Hochkonjunktur. In der Biologie steht , rogue‘ für das wieder ausgewilderte Einzelgängertier, das abseits von der Herde durch den Busch streift. Die beiden ,rogue states‘ der gegenwärtigen Weltpolitik sind, so gesehen, die USA und Israel, die jede Art von Alignment mit der internationalen Staatengemeinschaft aus dem Grundansatz ihres Selbstverständnisses heraus ablehnen, weil sie beide davon ausgehen, dass Nicht-Israelis beziehungsweise Nicht-Amerikaner sich in die besondere Situation dieser beiden Länder nicht einfühlen können. Das bestärkt sie auch in ihrer Neigung, die Fähigkeit zum Selbstmandat in einem überdurchschnittlichen Ausmaß auszuüben.“
Die Absetzung des US-Imperiums und Israels von ihnen selbst anerkannter, wenn nicht gar, im Falle der USA, selbst geschaffener Institutionen und Standards der internationalen politisch-moralischen Abstimmung, diese fatale Absetzung und Geringschätzung zu benennen und zu kritisieren, ist natürlich legitim. Ebenso, wenn man dieses Ausscheren als eine Verwilderung längst universell gebotener Sitten einstuft.
Doch welches eitle politische Motiv muss einen treiben, welcher Hafer einen stechen, die beiden Länder auf eine Stufe mit despotischen Regimes wie dem Irak oder Nordkorea zu stellen? Auch die begriffliche Klarstellung, dass „rogue“ eigentlich einer zoologischen Semantik angehört, nimmt dem Vergleich nicht das Obszöne, im Gegenteil. Abgesehen davon kommt es Sloterdijk ja zweifellos darauf an, den Spieß umzukehren, der Wortgebrauch der USA soll auf diese zurückfallen. Wäre das nur eine begrifflichmoralische Retourkutsche, wäre es nur billig. Darüber hinaus belegt es jedoch den Verlust einer intellektuellen Kontrolle, den Verlust eines Urteilsvermögens, das womöglich in einer „symbolisch-moralischen“ Welt rhetorisch zu glänzen vermag, gegenüber Verantwortungskriterien der realen Welt aber selbst eine Verwilderung anzeigt.
ANDREAS ZIELCKE


 


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