Letzte Ölung für Einar Schleef
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Das Berliner Ensemble inszeniert den Monolog "Gertrud" als sehr,
sehr lange Klage
von Evelyn FingerZur Beerdigung geht man nicht in Gummistiefeln. Da kann es
regnen, regelrecht schütten - man geht gemessenen Schrittes, schweren
Herzens. Aber man macht sich dabei so seine Gummistiefelgedanken: dass die
Kranzschleifen vom Wind schon völlig zerzaust sind; dass Plastikblumen
vielleicht besser gewesen wären. Große Gefühle und praktische
Erwägungen gehören ursprünglich zusammen. Das Leben als disparate
Gegend würde aber gar keiner entdecken, wenn nicht alle Jubeljahre ein
Dichter vorbeikäme. Einar Schleef beispielsweise, ein Aufklärer
aus Mitteldeutschland, was ja auch eine disparate Gegend sein soll, so viel
Kultur neben so viel Dreck. Schleef, in Sangerhausen geboren, später
Bühnenbildner in Berlin, Regisseur in Ost und West, hat die verborgene
Innenwelt der DDR kartografiert, hat gesehen, was keiner wahrhaben wollte,
und ist darum immer wieder irgendwo rausgeflogen, zweimal allein am Berliner
Ensemble.
Dort wird der Mann, dessen kleine Erzählung vom verregneten Friedhofsbesuch
(Tod des Lehrers) bereits ein Abgrund an Bitterkeit, Weisheit und Komik war,
soeben zu Tode beerdigt. Man muss ihm wohl gratulieren, dass er, seit nun
einem Jahr, mausetot ist. Denn diese Art Grablegung soll einer nicht miterleben
müssen: Gertrud. Ein Totenfest heißt die auf 20 Seiten geschrumpfte
und auf zwei endlose Stunden gedehnte Bühnenfassung des Großmonologes,
in den Schleef sein Heimweh, sein Schuldgefühl gegenüber der in
Sangerhausen zurückgelassenen Mutter, seine Hassliebe zum Ort der Kindheit
einschrieb. Das Prosawerk Gertrud reichte vom Kaiserreich bis in die späte
DDR. Vom Kyffhäuser bis Leuna. Von Wut bis Galgenhumor.
Doch Edith Clever spielt nur das Lamento einer einsamen Greisin mit Helene-Weigel-Frisur
und stilisiertem Proletenkostüm. In pathetischem Halbdunkel, durch funzeliges
Scheinwerferlicht ins Heiligmäßige entrückt, deklamiert sie
einen Text, der sich zum Deklamieren eignet wie ein Regenschirm als Krinoline.
Aus Schleefs schroffer Poesie sollen goldene Worte werden, deshalb spricht
Edith Clever mit ganz spitzem Mund, veredelt das "Ich" zum "Üch",
das "Glänzen" zum "Glönzen", lächelt süß
bei "Kindheit" und senkt den Kopf an traurigen Textstellen. Was
Drama, was Figur war, zerbröckelt in zusammenhanglose Wörter. Ohne
Geschichte kann es aber keine Gertrud geben; sehr geholfen hätte auch
eine leise Ahnung von Schleefs Landwüst, jenem ödem Allerweltsbezirk,
den noch andere Dichter beackert haben: Volker Braun hisste hier Rauchfahnen,
Heinz Czechowski lief hier im Kreis, Schleefs Bande steckte in qualmenden
Autokolonnen fest. Disparate Gegenden waren das, aber immer Welten. Seelische,
philosophische, politische, anschauliche. In Schleefs Sprache poltert Luther,
singt Klopstock, und Nietzsche wohnt gleich nebenan. Am BE dagegen ist nur
hohle Prätention, affektierte Gebärde. Viel Pietät, aber kein
einziges Paar Gummistiefel.
Donnerstag, 26.9.2002
Ein glänzendes Gerücht
Warum nicht Vollmer? Plädoyer für eine Bundeskulturministerin
An einem, wahrscheinlich nur an diesem einen Ort der Republik
hat ein Streit um Kultur das Wahlergebnis beeinflusst. 10,3 Prozent der Zweitstimmen
konnten die Grünen in Weimar gewinnen, 2,1 Prozent mehr als vor vier
Jahren. Schuld daran ist die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages,
Antje Vollmer, die seit Monaten den Intendanten des Deutschen Nationaltheaters
im Kampf um den Erhalt seines Hauses unterstützt.
Seit der Wahlentscheidung kursiert in Berlin das Gerücht, Antje Vollmer
könnte Bundeskulturministerin werden, eine Vorstellung, die in der müden
Kulturszene der Hauptstadt für Erregung sorgt. Die Vernunft verbietet
es, das Gerücht ganz ernst zu nehmen. Weder haben sich die Grünen
bisher um das Kulturressort gerissen, noch kann man Antje Vollmer eine besondere
Nähe zum Kanzler oder Bundesaußenminister nachsagen. Und doch ist
es ein sehr verführerisches Gerücht: Warum eigentlich nicht Vollmer?
Wer denn dann?
These, Antithese, Synthese
Gewiss könnte Julian Nida-Rümelin das Ressort verlässlich weiter
führen. Allerdings stehen ihm auch andere Wege offen. Die Universität
Göttingen wäre froh, wenn er auf seinen Lehrstuhl für Philosophie
zurückkehren würde, ein Ruf an die Universität München
ist nicht ausgeschlossen. Nida- Rümelin hat den Philosophen immer strikt
vom Amtsinhaber getrennt und zugleich viel dafür getan, im Fach präsent
zu bleiben. Eine Rückkehr in denBeruf wäre für ihn keine Niederlage.
Ausgeschlossen scheint es allerdings, dass Antje Vollmer aus ihrem hellen
Büro mit Blick auf den Reichstag in das verbaute Zimmer fast ohne Aussicht
ziehen könnte, das Julian Nida-Rümelin im Kanzleramt zugestanden
wurde. Als dessen Nachfolgerin kann man sie sich nur schwer vorstellen, wohl
aber als erste Bundeskulturministerin mit eigenem Haus, in dem alle Kulturkompetenzen
des Bundes verwaltet werden. Wegfallen könnte dann endlich die scheußliche
Amtsbezeichnung: Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten
der Kultur und Medien, ein Name, dem die Aura allzuständiger Machtlosigkeit
und einer diffus verdrucksten Verlegenheit anhaftet, die Kultur
und Bund nicht in einem Atemzug nennen kann, ohne sie in bürokratische
Sicherungsverwahrung zu nehmen.
Als im Herbst 1998 Michael Naumann zum ersten Kulturstaatsminister ernannt
wurde, hat er viel Staub aufgewirbelt, verwirrt, aufgetrumpft und ohne
Staatsklugheit dafür gesorgt, dass man sich an das neue Amt gewöhnte.
Wo so viel Rauch aufstieg, musste doch auch ein Feuer glimmen. Geschickt,
gemäßigt und erfolgreich hat Naumanns Nachfolger dafür gesorgt,
dass das Feuer nun dauerhaft brennt und ständig unterhalten wird. Man
hat sich an die gleichmäßige Wärme gewöhnt und vermisst
doch den Glanz, das Flackern.
Wenn die Welt Hegelschen Gesetzen folgen würde, könnte kein Zweifel
daran bestehen, dass nun Antje Vollmer Bundeskulturministerin werden muss,
Anregbarkeit und Verwaltungsgeschick vereinigend. Sie besitzt Erfahrung im
Durchsetzen aussichtslos scheinender Pläne und eine besondere Leidenschaft
für die Angelegenheiten der Kultur.
Ihr Engagement für das Weimarer Theatermodell war mit der Hoffnung verbunden,
hier eine Wende einzuleiten, einen Weg zu finden, um die deutsche Stadttheaterlandschaft
insgesamt zu retten. Sie hat diese kurzerhand ein Weltkulturerbe
genannt und zugleich ihrem Ärger wie ihrer Langeweile angesichts der
zur Routine gewordenen Publikumsbeschimpfung im Theater Luft gemacht.
Niedlich war immer das erste Wort, wenn man an die Kultur der Grünen
dachte. Deren Ressentiment gegen das Bürgerliche, Tradierte hat Antje
Vollmer nie geteilt. So sprach sie sich auch zum Ärger vieler Fraktionskollegen
für die Rekonstruktion barocker Fassaden am Berliner Schlossplatz aus.
Eine Konservative in grüner Verkleidung? Wenn ihr Kunsturteil konservativ
ist, so ist es dies aus anarchischer Lust an der Freiheit. Um die symbolische
Kraft, die Ausstrahlung eines Kulturministeriums müsste man sich unter
ihr wohl kaum sorgen.
Aber kann die Einrichtung eines Bundeskulturministeriums überhaupt gelingen?
Denn nur unter dieser Bedingung lohnt es sich, über neue Personen nachzudenken.
Kann jetzt die Bündelung der Kompetenzen gelingen, die 1998 misslang?
Dazu müsste der Außenminister auf die Zuständigkeit für
die auswärtige Kulturpolitik verzichten, und ein neues Ministerium würde
selbstverständlich einen höheren Etat benötigen.
Und selbst wenn die Bundesregierung dies wollte, bliebe die Frage, ob die
Länder bereit wären, dem zuzustimmen, ob zumal der reiche Süden
das kulturelle Engagement des Bundes zulassen will, von dem der arme Nordosten
besonders stark profitiert. Der vernünftige Plan, die Bundeskulturstiftung
und die Kulturstiftung der Länder zu vereinigen, ist vor der Sommerpause
heftig attackiert worden. Noch läuft die Entflechtungsdebatte, in der
schon die Staatskanzleien der Länder oft andere Positionen vertreten
als die Kultusminister.
Ein Bundeskulturministerium wäre in dieser Situation für die rot-grüne
Regierung eine Gelegenheit zu zeigen, dass sie in der Kulturpolitik nicht
so matt weiter machen will wie bisher. Aber es ist ja nur ein Gerücht.
Was sonst?
JENS BISKY
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Aus dem Hause der Michael Naumann und Co. was anders erwartet? Schleef der Aufklärer? Hölderlin über 40 Jahre Turmexil heute im restaurierten Turm der Zeit am verseuchten Fluss ohne Menschen wie eh und je. Hölle nach 45 in Deutschland Ost und West vereint. Was wäre Schleef ohne O Haupt voll Blut und Wunden und die Himmel rühmen, was das Theater ohne Gesang am Ende aller Bewegungen zum Bilde gewordener Exerzitien-Gerichte ganz oben, de profundis, wovon er wusste. "Höchste Kammermusik", warum sonst ihn ehren. Der Einzige sonst.
Mittwoch, 25.9.2002
Deutsches Urteil
Noch ein Meister des Vergleichs: Peter Sloterdijk zu USA und Israel
Peter Sloterdijk hat in einem Interview mit dem österreichischen Magazin
profil, das gestern veröffentlicht wurde, kluge Anmerkungen zur Bundestagswahl,
zum Epochenprojekt Rot-Grün und zur Erblast der Ära Kohl gemacht.
Dann aber, in einer erstaunlich vorbehaltslosen Lobrede zur Politik und auch
zum Naturell Gerhard Schröders, trägt ihn diese Apologetik bei einem
heiklen Punkt aus der Kurve. Als ob es das Gesetz einer unheimlichen Serie
so will, greift auch hier wieder ein deutscher Intellektueller zum falschen,
desavouierenden Vergleich, um ein richtiges Anliegen zu charakterisieren.
Er bezeichnet Israel und die USA als die rogue states, als die
Schurkenstaaten der Weltpolitik.
Um seine Pointe zu verstehen, muss man ihn ausführlich zitieren: Bis
tief in die Ära Kohl hinein, erläutert er zunächst, bis
tief in die Ära Kohl war deutsche Außenpolitik von dem Bewusstsein
geprägt, dass wir uns auf einer Sonderschule der Demokratie den Abschluss
erst mühsam erarbeiten mussten. Schröder war, wenn man so will,
der erste Kanzler der Normalität. Mit seiner Wahlkampfwendung vom deutschen
Weg wurde sozusagen die Heimkehr der deutschen Demokratie in die Familie der
nicht neurotischen Gesellschaften gefeiert. Darüber sind die ideologischen
Sozialarbeiter und politischen Psychotherapeuten der Deutschen naturgemäß
unglücklich, weil sie einen Patienten verlieren, an dem ihnen sehr viel
lag und der sich so leicht nicht durch einen anderen ersetzen lässt.
Schröders ,deutscher Weg besticht vor allem auch durch die Selbstverständlichkeit
seines Klangs, weil man weiß, dass hier kein Chauvinist oder Anti-Europäer
spricht, sondern einer, der ganz deutlich signalisiert, dass im Bereich der
deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden
muss. Die Fähigkeit, zwischen den USA als kulturell verbündetem
Projekt und der Bush-Administration zu unterscheiden, halte ich für eine
elementare Tugend der deutschen Demokratie von heute.
Darauf wirft profil ein: Eine spezifische Ausprägung dieses deutschen
Weges war Schröders Weigerung, sich der amerikanischen Kriegsrhetorik
gegen den Irak anzuschließen.
Und Sloterdijk: Das deutsche Nein in dieser Angelegenheit ist vor allem
eine symbolisch-moralische Position, eine spezifische Form der Auseinandersetzung
mit dem Sonderweg der USA. Der Begriff ,rogue state, mit , Schurkenstaat
übrigens eher unglücklich ins Deutsche übersetzt, hat in der
westlichen Politik seit einigen Jahren Hochkonjunktur. In der Biologie steht
, rogue für das wieder ausgewilderte Einzelgängertier, das
abseits von der Herde durch den Busch streift. Die beiden ,rogue states
der gegenwärtigen Weltpolitik sind, so gesehen, die USA und Israel, die
jede Art von Alignment mit der internationalen Staatengemeinschaft aus dem
Grundansatz ihres Selbstverständnisses heraus ablehnen, weil sie beide
davon ausgehen, dass Nicht-Israelis beziehungsweise Nicht-Amerikaner sich
in die besondere Situation dieser beiden Länder nicht einfühlen
können. Das bestärkt sie auch in ihrer Neigung, die Fähigkeit
zum Selbstmandat in einem überdurchschnittlichen Ausmaß auszuüben.
Die Absetzung des US-Imperiums und Israels von ihnen selbst anerkannter, wenn
nicht gar, im Falle der USA, selbst geschaffener Institutionen und Standards
der internationalen politisch-moralischen Abstimmung, diese fatale Absetzung
und Geringschätzung zu benennen und zu kritisieren, ist natürlich
legitim. Ebenso, wenn man dieses Ausscheren als eine Verwilderung längst
universell gebotener Sitten einstuft.
Doch welches eitle politische Motiv muss einen treiben, welcher Hafer einen
stechen, die beiden Länder auf eine Stufe mit despotischen Regimes wie
dem Irak oder Nordkorea zu stellen? Auch die begriffliche Klarstellung, dass
rogue eigentlich einer zoologischen Semantik angehört, nimmt
dem Vergleich nicht das Obszöne, im Gegenteil. Abgesehen davon kommt
es Sloterdijk ja zweifellos darauf an, den Spieß umzukehren, der Wortgebrauch
der USA soll auf diese zurückfallen. Wäre das nur eine begrifflichmoralische
Retourkutsche, wäre es nur billig. Darüber hinaus belegt es jedoch
den Verlust einer intellektuellen Kontrolle, den Verlust eines Urteilsvermögens,
das womöglich in einer symbolisch-moralischen Welt rhetorisch
zu glänzen vermag, gegenüber Verantwortungskriterien der realen
Welt aber selbst eine Verwilderung anzeigt.
ANDREAS ZIELCKE
sueddeutsche.de