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Dienstag, 24.9.2002
Feuilleton
Pst! Kunst!
Edith Clever inszeniert in Berlin Gertrud und sich selbst
Die Nacht hatte die Bühne fast schon ratzeputz verschlungen,
als dieses Totenfest begann. Nachtschwarz gewandet, stand Edith
Clever in der Finsternis, drehte uns den Rücken zu und hob die Hände
hoch. Da begannen ihre Hände zu leuchten. Strahlende Hände geisterten
durch die Nacht wie in einem Bob-Wilson-Varieté, und die Clever sprach
ins Dunkel. Kyffhäuser, sagte sie und beschwor Orte, von
denen kaum jemand weiß, Pfeiffersheim und Udersleben. Von Krähen
sprach sie und von Stoppelfeldern. Wir sahen bereits ihr Gesicht, als sie
sagte: Deutschland kaputt.
Natürlich sagte sie nicht einfach etwas, sie brachte die Sprache zum
Klingen oder ließ sie fallen. Sie ließ sich von ihr ergreifen
oder ging gegen sie los. Sie gehorchte dem einen Satz wie einer Regie-Anweisung
und schüttelte sich vor dem nächsten. Edith Clever inszenierte sich
selbst mit Texten von Einar Schleef und schaute von der Bühne des Berliner
Ensembles auf den Kyffhäuser. Denn nahe beim Barbarossa-Berg lebte Gertrud,
Schleefs Mutter, der sich Edith Clever an diesem Abend schwesterlich annahm.
Edith Clever aber hat viele Schwestern: Penthesilea, die Lotte aus Botho Strauß
Groß und klein, und nun auch Gertrud. Sie nahm Gertrud zu
sich. Erst hatte die Nacht die Bühne verschlungen, dann verschlang die
Clever Gertrud.
Auch Einar Schleef schaute in seiner Kindheit und Jugend auf den Kyffhäuser,
allerdings nicht von einer Theaterbühne, sondern von Sangerhausen aus,
einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Hier stand das Elternhaus, Mogkstraße24,
schmal wie ein Anbau. Im Winter klirrte das Haus vor Kälte, weil nur
wenige Räume zu beheizen waren. Hier lebte Gertrud Schleef, die sich
nach der Wende aufgegeben hatte. Sie fand sich nicht mehr zurecht. Die
wollte nicht mehr, sagte Schleef, der seiner Mutter, die 1993 starb,
tausend Seiten Prosa gewidmet hat, eine verkappte Autobiografie, der Mutter
in den Mund gelegt, erzählt in einer Kunstsprache, in der sich zugleich
die Sprache der Gegend überliefert. Schleefs Prosa, ihre Gedankensprünge,
ihre abrupten Manöver, die manische Detailversessenheit schließen
Wehmut, Gejammer und Selbstdarstellung aus. Gertrud das
ist die Sachlichkeit der Obsession.
Edith Clever hat mit Hilfe des ehemaligen Schaubühnen-Dramaturgen Dieter
Sturm ein paar der tausend Seiten zu einem gut zweistündigen Theaterabend
zusammengestellt. Gertrud redet zu sich über den Tod (ihres Mannes),
die Abwesenheit (ihrer beiden Söhne), das Alleinsein, das Absterben:
Der Körper leert sich, bald wird das Tor geschlossen. Ihr
Leben sei zu Ende, endlich begriffen, sagt sie. Und: Ich
kriege eine Spritze, und dann ist es wieder gut.
Für Schleef waren die Zumutungen des Lebens immer auch eine praktische
Frage. Sangerhausener Realitäten und keine Einzelschicksale. Durch das
bürgerliche Leben müsse man einfach durch, fand Schleef. Erst wenn
das Schicksal aufrüstet, marschiert das Leben los. Was uns dann bleibt,
ist die alte Form, das Ritual, der Chor. Schleef hat den antiken Blick,
sagten seineBewunderer. Diesen Blick hat Edith Clever auch. Allerdings ist
er bei ihr nur die Maske einer Protagonistin, die reine Manier, die Clever
zelebriert. Schleefs Theater aber marschiert.
Es kam an diesem Abend zu einem bezeichnenden Zwischenfall. Obwohl sich das
Auditorium lange Zeit mäuschenstill verhielt, musste ein Zuschauer trotz
des Totenfestes husten. Da fiel die Diva aus der Rolle: Hören
Sie auf! Ich bin kein Stein. Kein Stück Holz! Ein Wunder, dass
man noch schnaufen durfte bei dieser andächtigen Kunstverrichtung im
Berliner Ensemble.
Einar Schleef wünschte sich ein Theater ohne Protagonisten, ein chorisches
Theater. Auch die Mutter wollte er als Protagonistin seines Lebens bannen.
Obwohl sie es nicht gut hatte in Sangerhausen, gelte Schleef jede Betroffenheitskundgebung
ab: Tausende lebten so. Ja, so ist das, sagte Schleef. Edith Clevers
Singsang meint aber immer nur eine, im Grunde sie selbst.
Auf Schleefs Bildern aus Sangerhausen, erschienen in seinem Fotoband Zuhause,
versperren blattlose Baumgerippe den Blick, und Schneeflecken mitten im Dreck
machen die Landschaft kaum heller. Man sieht eine triste Gegend, und der
Rägen hört nich uff. Im BE schaut man in eine tiefe Theaternacht,
in der allmählich das Gerippe einer Pappel sichtbar wird. Graue Lichtschneisen
bahnen sich ihren Weg durch das Dunkel, und wenn es fast einmal Tag wird,
ist das Licht kalt und zeigt Edith Clever an einem schwarzen Tischchen an
der Rampe (Bühne: Thomas Gabriel). Alles wirkt hoch theatralisch und
bedeutsam. Auch wenn Gertrud sich in einem verfallenden Körper auf Erotik
im Alter bezieht, bleibt es beim affektierten Solo, an dessen Ende die Clever
eine Treppe hinunterschreitet, dorthin, wo sie die Toten vermutet. Bei Schleef
aber bleiben die Toten da, wohnen in unseren Köpfen. Auch deshalb schrieb
er Gertrud.
Gertrud im Berliner Ensemble das war kein Totenfest, sondern
eine Andacht. Für Schleef ein Reinfall, für die Clever ein großer
Tragödienabend. Bei Schleef aber beginnt die Tragödie mit der Vertreibung
der Hauptdarsteller.
HELMUTSCHÖDEL
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