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Für wen leben?
Berliner Ensemble: Edith Clever ist Schleefs »Gertrud« 
 
Von Hans-Dieter Schütt 
 

Edith Clever in »Gertrud. Ein Totenfest« von Einar Schleef. Der Regisseur, Bühnenbildner und Schriftsteller, geboren 1944, war im Juli 2001 gestorben. In seinem Nachlass fand sich eine eigene Theaterfassung des Romans »Gertrud«, der 1980 im Suhrkamp Verlag erschien. In Schleefs »Nietzsche Trilogie«, für die Wiener Festwochen 2001 geplant, sollte Edith Clever neben Schleef selber die Schwester Nietzsches spielen.
Foto: DRAMA
 
Die alte Frau und – nichts mehr. Das Uralte in existenzieller Verwitterung. Wer ist jene Frau mit den klobigen Schuhen, die sich da hinter einem Gazevorhang, nebelgleich, durch ihre eigenen Meditationen bewegt? Weiß leuchten nur die Hände, Wegweiser für den Hall der hohen, ziehenden, schleppenden, manchmal scheppernden Töne? Woher quält sie sich, und wohin? Kommt sie aus Kriegen in einen Frieden oder aus einem Frieden in den Krieg? Aus Träumen in Trümmer? Aus Ruinen in neue Räume? Die Hände schreiben harzvorländische Geografie in die Luft, da vorn Sittendorf, da drüben der Kyffhäuser. Aha, Deutschland. Die Antike, das ewige archaisch Grausame in seiner dreckigsten Gestalt: Sangerhausen. Die Einar-Schleef-Stadt.
Nun wird Licht, auf der leichten Bodenschräge eine knorrig stilisierte Pappel (Bühne: Thomas Gabriel), vorn ein Teppich, Stuhl, Tisch, Tasse. Scheinwerfer setzen nach und nach eine Zeichen-Welt frei; Welt, von der dieses Frauenleben gezeichnet ist: der Friedhof, dessen Kreuze auch Panzersperren sind; ein Grab.
Gertrud, Schleefs Mutter: lebenslange Gewährsfrau und das Medium des Sohnes. Sie ist Einars Notwehr, als er in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts die DDR verließ und im Westen Herr seiner Verlorenheit zu werden versuchte. Denn er schreibt über sie, die Mutter bekommt das rasende, detailplatzende, atemberaubend auswuchernde Roman-Wort, und das drangvolle Gedächtnis der Frau entäußert ein Leben, das die Zeitgeschichte zwischen Weimarer Republik, Drittem Reich und sozialistischem Deutschland als ununterbrochene Folge persönlicher, familiärer Schicksalsschläge wahrnimmt. Der Mann tot, die Söhne beide weg. Gertrud, die notverzehrte und doch auch notgesättigte Altersgestalt in der notorischen Endstation Leben. Dieses Leben durchkauen, um damit fertig zu werden! Der Text hallt wider von Verzweiflungen und Trotzschreien, von Zartheitssehnsucht, die den Körper wie eine tödliche Krankheit heimsucht, von Untergangsgeilheit, die als Droge hochreißt. Eine Schwester von Becketts Krapp, der seinem letzten Band nachsinnt.
Schleef hatte der DDR, deren sozialistische Realisten ihn aus Unverstand verachteten, den Rücken gekehrt – ohne diesen Boden je verlassen zu können, und sein Mutter-Roman »Gertrud« porträtiert die ewig blutende Wunde mit den Schmutzrändern – die Trauerränder sind. Zerrissenheit zwischen Heimatflucht und Heimatsucht. Kleiner, unendlicher Kosmos mit Krähen, die im Herz nisten.
»Gertrud. Ein Totenfest« am Berliner Ensemble, eine Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater: Edith Clever inszenierte Edith Clever; die Schauspielerin ist mit dem Dramaturgen Dieter Sturm auch Autorin der Spielfassung.
Edith Clever war eine der Protagonistinnen der Schaubühne. Hochgradig elegisch. Ein klarer, einsamer, schöner Wortkopf. Entschiedene Entrücktheit von einem Theater der realistischen Kopien. Brillante Hochmögenheit im Glanz des betont Kunstvollen. Nun spielt sie diese Gertrud vor allem als ein Theater der schwingenden, brustschlagenden, luftkratzenden, schenkelkrallenden, weichblättrigen Hände. Momentaufnahmen eines verdämmernden, sterbensnah aufglühenden Daseins. Verschmitzt altersirr, verzweifelt begehrend. Wie eine Tschechow-Dame sitzt sie im Stuhl und spricht vom Scheißhaus. Eine Haarsträhne beginnt gleichsam so etwas wie eine eigene Biografie in dieser Gesichtslandschaft. Die pergamenten den Tod grüßt oder den Ekel über den eigenen Verfall in den stummen Schrei einer Munch-Gestalt kleidet. Als erstarre Wahrheit vor ihrem eigenen Anblick.
Es ist ein kühner, quälend fordernder, großer Monolog-Abend geworden, ein Exerzitium der Überstehens-Rituale fern jeglicher naturalistischer Verlockungen. Clever gibt eine mythische Gestalt, weniger wahr im Sinn eines geerdeten Porträts, aber anspruchsvoll wahrhaftig und noch im Derbsten auf eine provokante Art vollendet. Als offenbare das Tierische, das Kreatürliche im Menschen seinen Adel, der Leiden heißt. Theater, das keine Chance gibt, sich zu gewöhnen, entspannt zu sein. Die Künstlerin wird mit ihrer Inszenierung auch auf Unverständnis stoßen, aber wahrscheinlich ist sie in der mutigen Feier ihrer Töne Einar Schleef sehr, sehr nahe. »Für wen lebe ich. Für mich, antworte ich heimlich ...« Plötzlich hat dieses Gesicht etwas Chinesisches, wie es Brecht vorgeschwebt haben muss, wenn ihn die Zuversicht der Weisheit überkam.
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Weiter am 26. September und 1. Oktober.
(ND 24.09.02)


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Dienstag, 24.9.2002



Feuilleton








Pst! Kunst!
Edith Clever inszeniert in Berlin „Gertrud“ – und sich selbst

Die Nacht hatte die Bühne fast schon ratzeputz verschlungen, als dieses „Totenfest“ begann. Nachtschwarz gewandet, stand Edith Clever in der Finsternis, drehte uns den Rücken zu und hob die Hände hoch. Da begannen ihre Hände zu leuchten. Strahlende Hände geisterten durch die Nacht wie in einem Bob-Wilson-Varieté, und die Clever sprach ins Dunkel. „Kyffhäuser“, sagte sie und beschwor Orte, von denen kaum jemand weiß, Pfeiffersheim und Udersleben. Von Krähen sprach sie und von Stoppelfeldern. Wir sahen bereits ihr Gesicht, als sie sagte: „Deutschland kaputt.“
Natürlich sagte sie nicht einfach etwas, sie brachte die Sprache zum Klingen oder ließ sie fallen. Sie ließ sich von ihr ergreifen oder ging gegen sie los. Sie gehorchte dem einen Satz wie einer Regie-Anweisung und schüttelte sich vor dem nächsten. Edith Clever inszenierte sich selbst mit Texten von Einar Schleef und schaute von der Bühne des Berliner Ensembles auf den Kyffhäuser. Denn nahe beim Barbarossa-Berg lebte Gertrud, Schleefs Mutter, der sich Edith Clever an diesem Abend schwesterlich annahm. Edith Clever aber hat viele Schwestern: Penthesilea, die Lotte aus Botho Strauß’ „Groß und klein“, und nun auch Gertrud. Sie nahm Gertrud zu sich. Erst hatte die Nacht die Bühne verschlungen, dann verschlang die Clever Gertrud.
Auch Einar Schleef schaute in seiner Kindheit und Jugend auf den Kyffhäuser, allerdings nicht von einer Theaterbühne, sondern von Sangerhausen aus, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Hier stand das Elternhaus, Mogkstraße24, schmal wie ein Anbau. Im Winter klirrte das Haus vor Kälte, weil nur wenige Räume zu beheizen waren. Hier lebte Gertrud Schleef, die sich nach der Wende aufgegeben hatte. „Sie fand sich nicht mehr zurecht. Die wollte nicht mehr“, sagte Schleef, der seiner Mutter, die 1993 starb, tausend Seiten Prosa gewidmet hat, eine verkappte Autobiografie, der Mutter in den Mund gelegt, erzählt in einer Kunstsprache, in der sich zugleich die Sprache der Gegend überliefert. Schleefs Prosa, ihre Gedankensprünge, ihre abrupten Manöver, die manische Detailversessenheit schließen Wehmut, Gejammer und Selbstdarstellung aus. „Gertrud“ – das ist die Sachlichkeit der Obsession.
Edith Clever hat mit Hilfe des ehemaligen Schaubühnen-Dramaturgen Dieter Sturm ein paar der tausend Seiten zu einem gut zweistündigen Theaterabend zusammengestellt. Gertrud redet zu sich über den Tod (ihres Mannes), die Abwesenheit (ihrer beiden Söhne), das Alleinsein, das Absterben: „Der Körper leert sich, bald wird das Tor geschlossen.“ Ihr Leben sei zu Ende, „endlich begriffen“, sagt sie. Und: „Ich kriege eine Spritze, und dann ist es wieder gut.
Für Schleef waren die Zumutungen des Lebens immer auch eine praktische Frage. Sangerhausener Realitäten und keine Einzelschicksale. Durch das bürgerliche Leben müsse man einfach durch, fand Schleef. Erst wenn das Schicksal aufrüstet, marschiert das Leben los. Was uns dann bleibt, ist die alte Form, das Ritual, der Chor. „Schleef hat den antiken Blick“, sagten seineBewunderer. Diesen Blick hat Edith Clever auch. Allerdings ist er bei ihr nur die Maske einer Protagonistin, die reine Manier, die Clever zelebriert. Schleefs Theater aber marschiert.
Es kam an diesem Abend zu einem bezeichnenden Zwischenfall. Obwohl sich das Auditorium lange Zeit mäuschenstill verhielt, musste ein Zuschauer trotz des „Totenfestes“ husten. Da fiel die Diva aus der Rolle: „Hören Sie auf! Ich bin kein Stein. Kein Stück Holz!“ Ein Wunder, dass man noch schnaufen durfte bei dieser andächtigen Kunstverrichtung im Berliner Ensemble.
Einar Schleef wünschte sich ein Theater ohne Protagonisten, ein chorisches Theater. Auch die Mutter wollte er als Protagonistin seines Lebens bannen. Obwohl sie es nicht gut hatte in Sangerhausen, gelte Schleef jede Betroffenheitskundgebung ab: „Tausende lebten so. Ja, so ist das“, sagte Schleef. Edith Clevers Singsang meint aber immer nur eine, im Grunde sie selbst.
Auf Schleefs Bildern aus Sangerhausen, erschienen in seinem Fotoband „Zuhause“, versperren blattlose Baumgerippe den Blick, und Schneeflecken mitten im Dreck machen die Landschaft kaum heller. Man sieht eine triste Gegend, und „der Rägen hört nich uff“. Im BE schaut man in eine tiefe Theaternacht, in der allmählich das Gerippe einer Pappel sichtbar wird. Graue Lichtschneisen bahnen sich ihren Weg durch das Dunkel, und wenn es fast einmal Tag wird, ist das Licht kalt und zeigt Edith Clever an einem schwarzen Tischchen an der Rampe (Bühne: Thomas Gabriel). Alles wirkt hoch theatralisch und bedeutsam. Auch wenn Gertrud sich in einem verfallenden Körper auf Erotik im Alter bezieht, bleibt es beim affektierten Solo, an dessen Ende die Clever eine Treppe hinunterschreitet, dorthin, wo sie die Toten vermutet. Bei Schleef aber bleiben die Toten da, wohnen in unseren Köpfen. Auch deshalb schrieb er „Gertrud“.
„Gertrud“ im Berliner Ensemble – das war kein Totenfest, sondern eine Andacht. Für Schleef ein Reinfall, für die Clever ein großer Tragödienabend. Bei Schleef aber beginnt die Tragödie mit der Vertreibung der Hauptdarsteller.
HELMUTSCHÖDEL


 






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