Montag, 23.09.2002
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Bravos für Schleefs «Gertrud. Ein Totenfest» am Berliner
EnsembleVon Peter Claus, dpa
Berlin (
dpa) - Mit starkem Beifall und Bravo-Rufen
hat das Publikum die Uraufführung von Einar Schleefs Monodrama «Gertrud.
Ein Totenfest» am Berliner Ensemble am Samstagabend aufgenommen. Regisseurin
und Hauptdarstellerin Edith Clever hat das auf dem zweiteiligen Roman «Gertrud»
des im Vorjahr 57-jährig gestorbenen Regisseurs, Autors und Schauspielers
basierende Stück gemeinsam mit Dramaturg Dieter Sturm erarbeitet.
Zweieinhalb Stunden lang (samt Pause) spiegeln wortreiche Erinnerungsfetzen
und Reflexionen das Leben von Schleefs Mutter, die Vorbild für den Roman
war. Edith Clever beherrscht die nahezu leere, schwarz ausgeschlagene Bühne
mit dem für sie typischen Sprechgesang, der mit seinem vollen Pathos
durchgehend an antike Dramen erinnert. Dem entsprechen Mimik und Gestik.
Die Geschichte der in einem kleinen Ort im Harz lebenden Näherin Gertrud
Schleef wird dadurch den konkreten historischen und sozialen Umständen,
etwa dem Alltag in der DDR, entrückt. Clever wandelt die vom Autor scharf
gezeichnete Proletarierin zu einer allgemein an der Welt leidenden Frauenfigur
von königlicher Erhabenheit.
Ein kleiner Teil des Publikums der vom Berliner Ensemble gemeinsam mit dem
Burgtheater Wien produzierten Uraufführung konnte dieser an traditionelles
Diven-Theater anknüpfenden Lesart offenbar nichts abgewinnen und verließ
die Vorstellung während der Pause. Die große Zahl der Anhänger
von Edith Clevers sehr spezieller Kunst der Selbstinszenierung aber feierte
die Schauspielerin und Regisseurin am Ende frenetisch. -------------------------------------
Montag, 23. September 2002
Sehnsüchte unter der kahlen Pappel
Uraufführung am Berliner Ensemble: «Gertrud. Ein Totenfest»
von Einar Schleef als Koproduktion mit dem Burgtheater Wien
Von Peter
Hans Göpfert
Eine alte Frau, ganz allein auf der Bühne. Allein auch in ihrem Leben.
Allein gelassen von ihrem Mann, ihren Söhnen durch Tod oder Weggang.
Allein mit ihren Erinnerungen. Allein mit den Bedrängnissen ihres Körpers.
Der in den achtziger Jahren in zwei Teilen erschienene Roman «Gertrud»
von Einar Schleef gehört zu den sperrigsten und eigenwilligsten Text-
und Sprachschöpfungen der jüngeren deutschen Literatur. Der Autor
entwarf damit den fiktiven Monolog seiner eigenen Mutter, den nach außen
gekehrten inneren Gedankenstrom einer Frau, die nach Kaiserreich, Weimarer
Republik und Hitler-Zeit in der DDR angelangt war. Beide Söhne lebten
im «Westen». Schleef ist im vergangenen Jahr in Berlin gestorben
und in seinem thüringischen Geburtsort Sangerhausen beerdigt worden.
An der Volksbühne lasen bereits vor ein paar Monaten verschiedene Schauspieler
vierundzwanzig Stunden aus dem fast 900seitigen Buch «Gertrud».
Jetzt hat Edith Clever diesen Monolog, als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater,
am Berliner Ensemble mit sich selbst inszeniert.
Auf der Bühne von Thomas Gabriel ist immer rabenschwarze Nacht. Aus
Tiefe und Dunkel hebt Clever zu Anfang, selbst ganz in Schwarz wie eine
mythische Gestalt, die Stimme. Hier, in der geographischen Beschreibung,
«Kyffhäuser in Westen und Osten», der Beschwörung
von Stimmen Verstorbener, der Beschreibung der Äcker, Krähen und
Stoppeln in der gespürten Gegenwart Barbarossas, «Deutschland
kaputt», wird heftig und schwer Schleefs stammelnde irrlichternde
Sprache gegenwärtig. Später scheint der Text, den Clever mit dem
langjährigen dramaturgischen Weggefährten aus Schaubühnen-Zeiten,
Dieter Sturm, destilliert hat, mund- und hörbequemer.
Diese Frau stellt sich dar als eine Verlassene. Sie ist gefangen in ihrem
Leib mit seinen Gebrechen und späten kräftigen Wallungen unerfüllter
Erotik. Am Tisch oder unter der kahlen Pappel überkommen sie die Sehnsüchte,
die Erinnerungen. Seelenwund beklagt sie, buchstäblich auf seinem Grabe,
den Verlust des Mannes und sexuellen Partners. «Ich bin läufig».
Edith Clever, mit ihrer hohen Sprachkunst, hat die theatralischen Alleingänge
immer geliebt. Dabei erreichte sie erstaunliche Höhen, und ist auch
gelegentlich abgestürzt. Hier lässt sie allen hoch sich aufkreiselnden
Manierismus beiseite, ohne dabei ihre besondere Manier des beinahe singenden
Sprechens zu unterdrücken. Zweieinhalb Stunden hat Clever die Rolle
im Griff.
Die Schauspielerin hat es an diesem Abend nicht leicht. Im Publikum werden
alle heute gängigen Ungezogenheiten vom Handy-Klingeln bis zu unablässigem
Husten aufgeboten. Diese Sprach-, Kunst- und nicht zuletzt Gedächtnisleistung
verdient jedoch starke Konzentration.
Berliner Ensemble. Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte. Tel.: 284 08 155.
Nächste Vorstellungen: 26. 9., 1. 10., 20 Uhr, 11. 10.,
19 Uhr.
Kultur
Die Verzweiflung einer alten Frau über den Verlust des gelebten Lebens
Berlin (
AP) Die alte Frau ist sehr einsam. Erinnerungen
sind das einzige, was ihr zwischen Todessehnsucht und -angst geblieben ist.
Die Frau: Das ist die Mutter des vor gut einem Jahr gestorbenen Regisseurs Einar
Schleef. Sie ist die Titelfigur in dem Roman "Gertrud", den Schleef
in den 80er Jahren schrieb.
Edith Clever reduzierte das Werk zu dem Einpersonenstück "Gertrud.
Ein Totenfest". In der Uraufführung im Berliner Ensemble spielte sie
selbst die Rolle der Schleef-Mutter.
Die Verzweiflung über den Verlust des gelebten Lebens trägt Clever
als Gertrud in dem großartigen, knapp zweieinhalbstündigen Monolog
mal depressiv, mal wütend, mal jammernd und theatralisch, dann wieder ruhig
vor. Nur ihre intensive Stimme gleitet durch den Saal. Die düstere Stimmung
greift auf die Zuschauer über, was auch am Bühnenbild und den Lichteffekten
liegt. Meist ist ein weißer Spot auf die in schwarze Kleidung gehüllte
Gertrud gerichtet, der Rest der Bühne bleibt dunkel. Je nach Position der
Frau sind dann noch das Grab ihres Mannes Willy, Grenzmarkierungen, ein schwarzer
Tisch und das kahle Gerippe eines Baums zu sehen.
Schleef beschrieb in dem · von Kritikern mit Günter Grass' "Danziger
Trilogie" verglichenen · zweiteiligen Roman eine Welt, aus der er
1976 Richtung Bundesrepublik geflüchtet war. Im Zentrum steht seine Mutter,
die in Sangerhausen am Rande des Harzes lebt und ein Resümee über
ihr Leben zieht. Dieses ist bitter: Beide Söhne sind auf der Suche nach
Freiheit in den Westen geflohen, ihr Mann Willy starb bereits 1971, kommt in
dunklen Erinnerungen aber immer wieder zurück.
Clever arbeitete das rund 1000-seitige Werk zu einem Monolog um. Im Mittelpunkt
steht Gertruds Trauer zu dem Gatten. Er ist immer präsent, obwohl schon
seit Jahren tot.
Ihr Leben ist ein Totenfest: Die Gedanken sind besetzt von einem Toten, von
dem sie nicht los kommt.
Gertrud steht jedoch weder in dem Roman noch in der Theaterfassung allein für
Schleefs Mutter. "Der Monolog ist keine Erinnerung an meine Mutter, die
bekloppt vor sich hinbrütet, sondern der Monolog ist die Reaktion auf die
Vielzahl vor sich hinsprechenden Menschen, denen ich im Westen begegnete",
erklärte Schleef einst. Und auch Clevers Gertrud steht für eine ganze
Personengruppe, insbesondere für die alternde Generation.
Weise ist Gertrud. Sie kann nur ihre Verbitterung nicht verbergen. Der Alterungsprozess
erschreckt sie, sie hasst ihren dicken Körper und erkennt: "Böse
macht das Alter." Die Trauer um den Mann und der Verlust der Söhne
machen ihr die einsame Gegenwart unerträglich. Zwar erkennt sie ihre Lage,
kann sich daraus jedoch nicht befreien. Gerne würde sie sterben, hat aber
gleichzeitig Angst davor. "Für wen lebe ich?" fragt sie. Und
antwortet selbst: "Für mich." Das reicht jedoch nicht. Am Ende
schreitet sie langsam von der Bühne: "Ich verschwinde ganz leise."
Holger Mehlig
Berliner Zeitung: Feuilleton |
Doppelter Stanislawski
Schleefaneignung durch Schleefenteignung: Berliner Ensemble, Neuhardenberg,
Sangerhausen
Detlef Friedrich
Das deutsche Sprechtheater ist abschussreif und soll krepieren", wünschte
Einar Schleef und fügte hinzu: "Und wer vor Angriffen Angst hat, darf
eh nicht zum Theater gehen. Dann muss man zu Hause als Mimose leben. Denn sobald
man sich diesen Betrieben nähert, ist man der letzte Arsch. Ich kenne keinen
Künstler, der das unbeschadet überstanden hätte." So sprach
der Theatermann vor gut zwei Jahren. Es hat wohl doch alles keinen rechten Sinn,
sagte sich der Mensch dann vor gut einem Jahr, und verschied unerwartet, zu
früh und so alt wie Brecht.
Der Erneuerer des Brecht-Theaters, auf eine Art wie sie sich Brecht nicht geträumt
hätte, wurde 57, ein Jahr älter als das Vorbild, das er im BE vor
der Wende wie nach der Wende verwarf und überwandt. Brecht starb im Jahr
der Chruschtschowrede und des Ungarnaufstandes, die enttäuschten Hoffnungen
werden einen Anteil gehabt haben. Schleef starb, als die Wende sich als bloße
Drehung erwies. Die Erkenntnis, dass er einsam steht, dass statt seiner die
Theaterchefs der alten Bundesrepublik die Theater führen werden, wird seinen
Anteil gehabt haben.
Brecht, der Glücklichere, war in schwierigen Zeiten auf seine Frauen bezogen,
Schleef auf sich selber. Schüler konnte ein Einar Schleef nicht haben.
Nun finden sich die Erben ein. Manche sind älter als der Meister, folgen
ihm aus Eigensinn in eigener Bitterkeit nach. Edith Clever sprach, deklamierte,
memorierte, intonierte, persiflierte am Sonnabend auf der Bühne des Berliner
Ensembles eine von dem Schaubühnendramaturgen Dieter Sturm hergestellte
Strichfassung der beiden Bände von Schleefs Roman "Gertrud".
Zwei Stunden stand, saß, schritt, verharrte, fingerzeigte Edith Clever
auf mählich erhellter Bühne: darauf ein Baum mit Bank, ein Küchentisch
mit Stühlen, viel Traurigkeit, noble Melancholie und die Schauspielerin
als Prophetin ihrer selbst. Die Clever warf die Arme hoch und stieß sie
hinab, gestikulierte nach rechts und nach links. Erzog das unartige Publikum,
welches hustete, mit der Ermahnung, sie sei nicht aus Holz. Freilich, ohne Zuschauer
würde so ein Theater besser funktionieren.
Die Clever spreizte mit der Guterzogenheit einer Dame die Hände fein bei
schrulligen Texten, wo man sich die vom Lande stammende Gertrud eher wie beim
Sauerkrautkochen vorstellen möchte. Die Clever gab die großartige
konzentrative, seelenstarke, einfältige, schauspielsportliche Leistung
einer herbstlichen Jüngerinnennachfolge, die sich in die 67-jährige
Figur Gertrud aus Sangerhausen einfühlte, als gelte es den doppelten Stanislawski
zu springen. Soziale Genauigkeit ist bei so viel Gefühlsenthusiasmus nicht
zu erwarten. Edith Clever will Gertrud nicht zeigen, will Gertrud sein. Sie
interessiert sich für die Gebresten und Gebrechen, für ihre Wehmut,
ihre Einsamkeit, ihre Sterbeangst, ihre Sohnesliebe, den Ekel vor dem Körper,
für das überzeitlich Altfrauenhafte.
Dass sich Edith Clever so einfühlt, ist nur konsequent. "Gertrud"
als Roman der DDR-Depression, als Buch, das wie kein anderes der deutschen Literatur
erzählt, wie sich der verwaltete Mensch in Krankheiten flüchtet und
wieder in Tatendrang verfällt, wie er einen Staat hasst und ihn doch akzeptiert,
wie er leidet, wächst, sich arrangiert, scheitert, hat die Regisseurin
Edith Clever, als sie die Schauspielerin Edith Clever inszenierte, nicht bedrängt.
Um Gertrud "vorzuzeigen", hätte sie ja das Leben in einer DDR-Kleinstadt
erlernen müssen.
Edith Clevers Gertrud ist aus Wuppertal, Husum, Ingolstadt, aus Sangerhausen
nicht. Und wenn es nicht Schleefs DDR-Provinz sein sollte, hätte man sich
aus anderer Literatur besser bedienen können. Fast wirkt es respektlos,
- das ist mit Achtung vor Clevers künstlerischen Gestaltungswillen und
Clevers schauspielerischen Vermögen gesagt -, dass die alte Schaubühne
im BE nun jede Erinnerung an das alte BE verwischt. Das Alte treibt das Alte
aus, das ist die neue Kunst. Vielleicht passt ja dazu, dass man im Foyer für
die Pause jetzt "Kulinarisches" vorbestellen kann: den "Brechtteller"
für 3,30 Euro: Bullette, Brot, Gewürzgurke, Schusterjunge, Schmalz,
oder den "Weigelteller" für 4,50 Euro: 3 Sorten Rohmilchkäse,
Baguettebrötchen, Oliven.
Die schwarz-weiß-rote Vereinnahmung findet in Neuhardenberg statt, wo
bis 9. November (!) die Ausstellung "Einar Schleef Deutsche Szenen"
läuft, eine empfehlenswerte Gelegenheit, die in den achtziger und neunziger
Jahren entstandenen großformatigen Gemälde zur deutschen Teilung
zu sehen, die Schleef als Maler von hohem Rang ausweisen. Doch ist das im Wesentlichen
die Ausstellung von Hans Jürgen Syberberg, der an dem wilden Einar Schleef
aus der Barbarossagegend
etwas Deutschtümelndes ausgemacht
haben will, was den Künstler Syberberg, fast eine Generation älter,
zum Jünger werden ließ.
Die filmische Performance auf zwei Etagen, mehreren Leinwänden und Bildschirmen
gleichzeitig, zielt auf Vereinnahmung. Auf die Frage, was die Kakaphonie der
Gleichzeitigkeit eigentlich solle, antwortet Syberberg: Etwas wird schon hängen
bleiben.
Beim Zappen bleibt auch immer was haften. Das weiße Bett, in dem Syberbergs
angebeter junger deutscher Gott Einar seine wochenlangen Depressionen ertrug,
steht frisch bezogen im märkischem Sand mitten im Filmsalat dabei, erhält
Licht durch Fragmente der "Nietzsche-Trilogie", die auf es projiziert
werden. Davor läuft auf Schleefs Fernsehapparat ein Video der Gruppe Take
That. Der nackte Jüngling und die Schäferhunde, die durch die unterirdischen
Gänge des Theaters einem ungewissen Ausgang entgegenlechzen, hält
Syberberg für Daseinserkenntnis, nicht für das, was es war, Fingerübung
für das "Sportstück" in Wien. Schleefs Gang in die Ewigkeit
kam rechtzeitig, damit Syberberg durch Dienen wahrgenommen wird. Es hat die
Neuhardenberg-Show etwas Riefenstahlhaftes, es gehört zu den schwer zu
verarbeitenden Eindrücken der Performance im gewesenen Marxwalde, dass
die konservierten Nietzsche-Monologe Schleefs in der Endlosschleife wie Reichsparteitagsreden
klingen.
23.09.2002
Deutschland. Weiche. Mutter.
Berliner Ensemble: Edith Clevers Hommage an Einar Schleef
Von Rüdiger Schaper
Fliehen wovor. Die Kindheit abschließen, das Unmündigsein,
um erwachsen zu werden und schuldig. Um mit Falten zu sagen: Das habe ich
nicht gewollt. Ich bin immer dagegen gewesen. Ein ganzes Volk, was seine Vergangenheit
verschlingt, das Aas unter der Erde versteckt, um es, wenn es Zeit ist, wieder
hervorzuholen.
Ein Tagebucheintrag Einar Schleefs aus dem Jahr 1981 da hatte er Gertrud
niedergeschrieben, den ersten Band des monumentalen Romans seiner Mutter,
seiner Kindheit, seiner deutschen Obsession. Da lebte er im Westen, der Riese
aus dem Osten, dem alle deutsche Staatlichkeit eng und bedrohlich war. Schleef
starb im Sommer 2001 in Berlin, einsam im Krankenhaus, als habe das selbstzerstörerische
Genie dieses Theatermannes, Dichters und bildenden Künstlers noch im
Tod eine schreckliche Klage und Anklage manifestieren müssen.
Schleefs Laufbahn hatte in den frühen siebziger Jahren am Berliner Ensemble
begonnen. Bei Claus Peymann, dem heutigen BE-Direktor, feierte er seinerzeit
in Wien mit dem siebenstündigen Sportstück der Elfriede
Jelinek einen seiner größten Theatertriumphe. Jetzt lädt das
BE (in Koproduktion mit dem Burgtheater) zu einem Totenfest für
Einar Schleef. Edith Clever spielt, sie hat sich selbst inzeniert als
Gertrud, als deutsche Mutter.
Ein seltsamer Abend am Schiffbauerdamm: So viele Fäden laufen hier zusammen,
und so vieles kommt offensichtlich nicht zusammen, was zu Schleef, zu Edith
Clever, zum BE gehört. Erschien es der Solistin und ihrem Dramaturgen
Dieter Sturm zu platt, auf jene Passagen im Buch Gertrud anzuspielen,
die vom Besuch der Mutter in Berlin erzählen, von den heiß umstrittenen
ersten Premieren des Filius? War es Clever und Sturm nicht fein
genug, in die grässliche Bedrängung der DDR-Provinz, in das Kleinbürger-Kuckucksnest
Sangerhausen am Harz hinabzusteigen, wo Mutter Schleef lebte und starb, immer
in Gedanken an den verlorenen Sohn?
Und natürlich hat man registriert, dass die Gertrud-Premiere
auf den Geburtstag der Schaubühne fiel. Edith Clever hat den rigiden
Zeitenwechsel an ihrem alten Haus nie wirklich verwunden. Verblüffende
Parallelen: Als Edith Clever mit Peter Stein und dem Schaubühnen-Ensemble
Geschichte schrieb, setzte auch der junge Schleef am Berliner Ensemble Wegmarken,
hinter die das ernst zu nehmende Theater (der DDR) nicht mehr zurückfallen
konnte. Hier und jetzt aber: hebt die große Schauspielerin zu einem
ortlosen, zeitlosen Sprechgesang an, zelebriert Endungen und Emotionen, und
ihr blaublütiger Gestus stellt sich in den auffälligsten Gegensatz
zu Schleefs berserkerhafter Sprachwut.
Mit der Anrufung des Kyffhäuser, des teutonischen Olymp, setzt die Cleversche
Theaterfassung der Gertrud ein. Eine dunkel
gewandete Frauengestalt schält sich hinter einem Gazevorhang aus der
Finsternis, als hätte noch einmal Hans Jürgen
Syberberg die Hand im Spiel. Nein: schwerdeutsch-lastend
ist die Séance nicht, aber doch schicksalhaft-raunend. Einlullend.
Zuweilen enervierend. Ein unglaublicher Kraftakt: Über zwei Stunden steht,
sitzt, wiegt sich die Clever allein auf der großen Bühne, am Katzentisch
der vereinsamten Witwe, unter dem großen Pappelbaum (Bühne: Thomas
Gabriel), und mit einigen spanischen Reitern im Hintergrund ist die Grenzfrage,
die deutsche Teilung aufreizend knapp abgetan.
Wer ist sie? Gertrud vielleicht, die mörderische Mutter Hamlets? Oder
eine Penthesilea, schon weit in der zweiten Hälfte
eines kriegerischen, entsetzlich einsamen Lebens? Sie kann auch komische Züge
annehmen wenn sie von Edith erzählt, der Ziege. Gertruds
Gegend ist ländlich, Krieg und Kriegsschäden sind noch immer spürbar,
die DDR war auch, das liest man bei Schleef, ein schlecht gepflegtes, ärmliches
Museum deutscher Geschichte.
Wer ist sie? Mitten in meiner Triefigkeit bricht das auf, kippe in ein
Fleischloch. Kratze mich, meine Erregung, presse Bauch und Schenkel zusammen:
Ich bin läufig. Eine Frau über Fünfzig, die plötzlich
von sexuellem Verlangen überfallen wird und nicht mehr eins sein kann
mit ihrem Körper: Solche Wort muss man erst einmal aussprechen, sich
zutrauen! Es sind die eindrücklichen Zeichen der Tragödie: Wie Edith
Clever sich windet, wie sie sich kasteit mit Worten, als müsse etwas
Totes, Ungeborenes aus ihr heraus. Und dann wieder: Was gräbt sie da
mit dem Spaten das Erdreich um? Warum ist der Sohn so weit fort, dass man
unwillkürlich beginnt, Schleefsche Gewaltauftritte in der Erinnerung
zu durchleben; als Puntila, als Nietzsche...
Gertrud. Ein Totenfest wird zur höchst
persönlichen, intimen Hommage. Edith Clever liest ihn anders.
Schleef, von Schleef befreit. Sangerhausen, in
der Gloriole des manchmal zuckersüßen, manchmal peitschenden Singsangs
der alten Schaubühne. Das DDR-Milieu, enthistorisiert und in einen ewig-düsteren
Himmel über Deutschland gehoben. Die Freiheit der Interpretation, die
gerade das DDR-Theater exemplarisch entwickelt hat, erscheint hier in ungewohntem
Licht: keine assoziative Textzertrümmerung, sondern klassische Idealisierung.
Kein Fass aufgemacht, vielmehr eine Opferschale gefüllt. Kein Prolet-Kult,
sondern kultische Handlungen einer Priesterin. Hat man nicht auch nach Schleef-Inszenierungen
gesagt: Es war quälend große Kunst?
Wieder am 26.9. sowie 1.und11.10. Zum Seitenanfang 2002 © Verlag Der
Tagesspiegel GmbH
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Im Kuttenkleid
"Gertrud. Ein Totenfest": Edith Clever spielt Einar Schleef am
Berliner Ensemble
Von Petra Kohse
"Schon beim Aufstehen ist mir schlecht. Regen. Kotzübel. Die Alte
gegenüber sitzt wieder am Fenster. Unten im Laden das Wahllokal. Bisschen
Papier und Fähnchen, Wachsnelken. Ich setze mich auf den Fußboden,
kratze zwischen den Schenkeln, die blaue Schlafanzughose zerrissen. Scheiße,
bin ich müde. Die hat nicht angerufen." Mit diesen Sätzen beginnt
ein Bericht von Einar Schleef über den Wahlsonntag 1976, den letzten,
den der damals 32-Jährige in der DDR miterlebte. "Gabi ruft nicht
an. Liegt der Hörer auf. Ich hebe an, Zeichen. Ich bin wieder im Bett,
ich hätte zuschlagen können. Ich geh nicht, ich geh nicht zur Wahl,
brüllte sie, heulte. Jetzt wo ich in den Westen fahren kann, geht die
nicht zur Wahl, ich trenn mich von der, Schluss, die macht mich verrückt."
Wie er sich seinerzeit auf der Suche nach seiner Lebensgefährtin machte,
deren Staatsbürgerinnengehorsam er brauchte, um seine Arbeitserlaubnis
für den Westen nicht wegen subversiver Privatkontakte wieder zu verlieren,
gestaltete der Schriftsteller, Maler und Theatermacher in mehreren Anläufen.
Die Perversion, Differenz mit Einverständnis zu bezahlen. Das Erlebnis,
dass es vielen befreundeten Künstlern, die zuvor noch nie wählen
gegangen waren, ebenso ging in jenem Jahr. Und die traumatisierende Erkenntnis:
"99 %. Jetzt sind wir auch dabei." Es gibt von diesem Bericht eine
Fassung in der Ich-Form, eine in Er-Form, es gibt Kommentare dazu und Kommentare
des Kommentars. Der tagebuchartige Stil ist gebaut, das minutiöse Festhalten
der eigenen Gesten und Gänge der fast kriminalistische Versuch, den eigenen
Verhältnissen auf die Schliche zu kommen. In Gertrud, dem zweibändigen
Roman über seine Mutter, den Einar Schleef dann nach seiner endgültigen
Ausreise im Westen schrieb und der 1980 und 1984 bei Suhrkamp erschien, brachte
er diesen obsessiven Naturalismus zur Meisterschaft. Auf vielen hundert Seiten
vertonte er das alltägliches Tun seiner Mutter, ihre Gespenster und Gelüste,
und gab gerade durch die akribischste Konturierung des persönlichsten
Einzelfalles einem exemplarischen Leben Gestalt: Gertrud S., eine Arbeiterin
im Südharz während des Krieges, in der Ehe, als zweifache Mutter,
in der DDR, als von ihren Söhnen Verlassene, als Witwe. Das Leben, ein
Reden. Ein unablässiges Vorsichhinsprechen in kunstvoll verkürzten
Sätzen, Beiläufiges und Schicksalhaftes in nicht enden könnender
Reihung.
Unter dem Titel Gertrud. Ein Totenfest kamen Teile des Prosamammuts jetzt
am Samstag auf der Bühne des Berliner Ensembles zur Uraufführung.
Die Schauspielerin Edith Clever, für ihre monologischen Alleingänge
berühmt, hat mit dem Dramaturgen Dieter Sturm eine eigene Fassung hergestellt.
Der Untertitel dieser Koproduktion mit dem Burgtheater Wien verweist nicht
nur auf das Fest, das Gertrud im Erinnern den eigenen Toten gibt, sondern
erinnert auch an den Tod des Autors im Juli letzten Jahres.
Wie Schleef bezieht sich Clever in ihrer Arbeit auf die Antike. Mit der ornamentalen
und prozessorientierten Bühnenästhetik, die für ihn daraus
resultierte, verbindet sie allerdings ebenso wenig wie mit seiner formalen
Differenzierung. Die Innensicht des Individuums war für Schleef ein literarisches
Thema, während er auf der Bühne die Außensicht des Kollektivs
entwarf, dem der Einzelne entstammt. Edith Clever hingegen bringt seit langem
vor allem Prosa auf die Bühne, und der alleinige Ausgangs- und Endpunkt
ihrer Darstellungen ist stets die tragische Geworfenheit.
So steht sie denn, in der ersten Szene des Abends hinter einem Gazevorhang
mit dem Rücken zum Publikum, schwarz gekleidet, im Dunkeln, und nur ihre
zum Himmel erhobenen Hände leuchten wie sonst nur Sterne oder die Unschuld.
"Blickt man jetzt zum Kyffhäuser, die Straßen strecken sich
alle zu ihm im Flachen", hebt sie an. "Pappeln an jedem Knick paarweise.
Aufgereiht." Später sieht man links auf der mit Kies bestreuten
Schräge einen Baum mit wunderlich verschlungenen, schlangendicken Ästen,
vorne rechts Tisch und Stühle auf einem Teppich und hinten rechts eine
Grenzabsperrung, die aussieht wie eine Reihe umgestürzter Grabkreuze
(Bühne: Thomas Gabriel).
Dazwischen Edith Clever im Kuttenkleid, gebeugt und schweren Schrittes, das
Haar grau und strähnig, der Blick nach oben, nach unten, nach innen.
Fliegender Ton, manchmal heiser knarzend, dann wieder singend, nie wie für
sich, sondern nach vorne gerichtet, trompetend manchmal, schnauzend, als würde
diese Gertrud wieder und wieder gefragt und müsse jetzt ein für
alle Mal hier Antwort geben. Dabei ist es doch so: dass sie redet, weil niemand
fragt. Ganz andere Geschichte also im BE und bei Clever. Ohne den Umweg über
den Einzelfall und unter Weglassung des sozialen Rahmens wird direkt aufs
Ganze gezielt. Auf den tragischen Schmerz, das Alter an sich, das Vergehen.
Gesetzte Gesten illustrieren das Sprechen und machen es zum Ritual. Die Erinnerung
an die Großmutter am Webstuhl, den sterbenden Ehemann, das offene Bein.
Es wird nicht davon gesprochen, um zu leben, sondern gelebt, um davon zu sprechen.
Exzellente Textkenntnis übrigens, Ehrensache. Einmal bittet Edith Clever
im Gertrud-Ton, das Husten zu unterlassen. Als kurz darauf ein Telefon klingelte,
zuckte das Publikum schuldvoll zusammen. Gertrud - eine Exerzitie.
Am Ende war der Beifall groß. "Was für eine Leistung!"
hieß es beim Hinausgehen. "Und das mit dem Handy", rief ein
Mittdreißiger, "das war ein Skandal!" Dann spannte er seinen
Schirm auf, denn draußen hatte der Herbst eingesetzt. Es regnete in
Berlin, und das tat es am nächsten Morgen beim Aufwachen noch immer.
Wahlsonntag. Bisschen Papier und Fähnchen. Keine Wachsnelken.
Berliner Ensemble, 26. September, 1. Oktober.
[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 22.09.2002 um 21:06:05 Uhr
Erscheinungsdatum 23.09.2002