Montag, 23.09.2002

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Bravos für Schleefs «Gertrud. Ein Totenfest» am Berliner EnsembleVon Peter Claus, dpa
Berlin (dpa) - Mit starkem Beifall und Bravo-Rufen hat das Publikum die Uraufführung von Einar Schleefs Monodrama «Gertrud.
Ein Totenfest» am Berliner Ensemble am Samstagabend aufgenommen. Regisseurin und Hauptdarstellerin Edith Clever hat das auf dem zweiteiligen Roman «Gertrud» des im Vorjahr 57-jährig gestorbenen Regisseurs, Autors und Schauspielers basierende Stück gemeinsam mit Dramaturg Dieter Sturm erarbeitet.
Zweieinhalb Stunden lang (samt Pause) spiegeln wortreiche Erinnerungsfetzen und Reflexionen das Leben von Schleefs Mutter, die Vorbild für den Roman war. Edith Clever beherrscht die nahezu leere, schwarz ausgeschlagene Bühne mit dem für sie typischen Sprechgesang, der mit seinem vollen Pathos durchgehend an antike Dramen erinnert. Dem entsprechen Mimik und Gestik.
Die Geschichte der in einem kleinen Ort im Harz lebenden Näherin Gertrud Schleef wird dadurch den konkreten historischen und sozialen Umständen, etwa dem Alltag in der DDR, entrückt. Clever wandelt die vom Autor scharf gezeichnete Proletarierin zu einer allgemein an der Welt leidenden Frauenfigur von königlicher Erhabenheit.
Ein kleiner Teil des Publikums der vom Berliner Ensemble gemeinsam mit dem Burgtheater Wien produzierten Uraufführung konnte dieser an traditionelles Diven-Theater anknüpfenden Lesart offenbar nichts abgewinnen und verließ die Vorstellung während der Pause. Die große Zahl der Anhänger von Edith Clevers sehr spezieller Kunst der Selbstinszenierung aber feierte die Schauspielerin und Regisseurin am Ende frenetisch. -------------------------------------



Montag, 23. September 2002
Sehnsüchte unter der kahlen Pappel
Uraufführung am Berliner Ensemble: «Gertrud. Ein Totenfest» von Einar Schleef als Koproduktion mit dem Burgtheater Wien
Von Peter Hans Göpfert
Eine alte Frau, ganz allein auf der Bühne. Allein auch in ihrem Leben. Allein gelassen von ihrem Mann, ihren Söhnen durch Tod oder Weggang. Allein mit ihren Erinnerungen. Allein mit den Bedrängnissen ihres Körpers.
Der in den achtziger Jahren in zwei Teilen erschienene Roman «Gertrud» von Einar Schleef gehört zu den sperrigsten und eigenwilligsten Text- und Sprachschöpfungen der jüngeren deutschen Literatur. Der Autor entwarf damit den fiktiven Monolog seiner eigenen Mutter, den nach außen gekehrten inneren Gedankenstrom einer Frau, die nach Kaiserreich, Weimarer Republik und Hitler-Zeit in der DDR angelangt war. Beide Söhne lebten im «Westen». Schleef ist im vergangenen Jahr in Berlin gestorben und in seinem thüringischen Geburtsort Sangerhausen beerdigt worden.
An der Volksbühne lasen bereits vor ein paar Monaten verschiedene Schauspieler vierundzwanzig Stunden aus dem fast 900seitigen Buch «Gertrud». Jetzt hat Edith Clever diesen Monolog, als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, am Berliner Ensemble mit sich selbst inszeniert.
Auf der Bühne von Thomas Gabriel ist immer rabenschwarze Nacht. Aus Tiefe und Dunkel hebt Clever zu Anfang, selbst ganz in Schwarz wie eine mythische Gestalt, die Stimme. Hier, in der geographischen Beschreibung, «Kyffhäuser in Westen und Osten», der Beschwörung von Stimmen Verstorbener, der Beschreibung der Äcker, Krähen und Stoppeln in der gespürten Gegenwart Barbarossas, «Deutschland kaputt», wird heftig und schwer Schleefs stammelnde irrlichternde Sprache gegenwärtig. Später scheint der Text, den Clever mit dem langjährigen dramaturgischen Weggefährten aus Schaubühnen-Zeiten, Dieter Sturm, destilliert hat, mund- und hörbequemer.
Diese Frau stellt sich dar als eine Verlassene. Sie ist gefangen in ihrem Leib mit seinen Gebrechen und späten kräftigen Wallungen unerfüllter Erotik. Am Tisch oder unter der kahlen Pappel überkommen sie die Sehnsüchte, die Erinnerungen. Seelenwund beklagt sie, buchstäblich auf seinem Grabe, den Verlust des Mannes und sexuellen Partners. «Ich bin läufig».
Edith Clever, mit ihrer hohen Sprachkunst, hat die theatralischen Alleingänge immer geliebt. Dabei erreichte sie erstaunliche Höhen, und ist auch gelegentlich abgestürzt. Hier lässt sie allen hoch sich aufkreiselnden Manierismus beiseite, ohne dabei ihre besondere Manier des beinahe singenden Sprechens zu unterdrücken. Zweieinhalb Stunden hat Clever die Rolle im Griff.
Die Schauspielerin hat es an diesem Abend nicht leicht. Im Publikum werden alle heute gängigen Ungezogenheiten vom Handy-Klingeln bis zu unablässigem Husten aufgeboten. Diese Sprach-, Kunst- und nicht zuletzt Gedächtnisleistung verdient jedoch starke Konzentration.
Berliner Ensemble. Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte. Tel.: 284 08 155. Nächste Vorstellungen: 26. 9., 1. 10., 20 Uhr, 11. 10., 19 Uhr.
   



Kultur
Die Verzweiflung einer alten Frau über den Verlust des gelebten Lebens
Berlin (AP) Die alte Frau ist sehr einsam. Erinnerungen sind das einzige, was ihr zwischen Todessehnsucht und -angst geblieben ist. Die Frau: Das ist die Mutter des vor gut einem Jahr gestorbenen Regisseurs Einar Schleef. Sie ist die Titelfigur in dem Roman "Gertrud", den Schleef in den 80er Jahren schrieb.
Edith Clever reduzierte das Werk zu dem Einpersonenstück "Gertrud. Ein Totenfest". In der Uraufführung im Berliner Ensemble spielte sie selbst die Rolle der Schleef-Mutter.
Die Verzweiflung über den Verlust des gelebten Lebens trägt Clever als Gertrud in dem großartigen, knapp zweieinhalbstündigen Monolog mal depressiv, mal wütend, mal jammernd und theatralisch, dann wieder ruhig vor. Nur ihre intensive Stimme gleitet durch den Saal. Die düstere Stimmung greift auf die Zuschauer über, was auch am Bühnenbild und den Lichteffekten liegt. Meist ist ein weißer Spot auf die in schwarze Kleidung gehüllte Gertrud gerichtet, der Rest der Bühne bleibt dunkel. Je nach Position der Frau sind dann noch das Grab ihres Mannes Willy, Grenzmarkierungen, ein schwarzer Tisch und das kahle Gerippe eines Baums zu sehen.
Schleef beschrieb in dem · von Kritikern mit Günter Grass' "Danziger Trilogie" verglichenen · zweiteiligen Roman eine Welt, aus der er 1976 Richtung Bundesrepublik geflüchtet war. Im Zentrum steht seine Mutter, die in Sangerhausen am Rande des Harzes lebt und ein Resümee über ihr Leben zieht. Dieses ist bitter: Beide Söhne sind auf der Suche nach Freiheit in den Westen geflohen, ihr Mann Willy starb bereits 1971, kommt in dunklen Erinnerungen aber immer wieder zurück.
Clever arbeitete das rund 1000-seitige Werk zu einem Monolog um. Im Mittelpunkt steht Gertruds Trauer zu dem Gatten. Er ist immer präsent, obwohl schon seit Jahren tot.
Ihr Leben ist ein Totenfest: Die Gedanken sind besetzt von einem Toten, von dem sie nicht los kommt.
Gertrud steht jedoch weder in dem Roman noch in der Theaterfassung allein für Schleefs Mutter. "Der Monolog ist keine Erinnerung an meine Mutter, die bekloppt vor sich hinbrütet, sondern der Monolog ist die Reaktion auf die Vielzahl vor sich hinsprechenden Menschen, denen ich im Westen begegnete", erklärte Schleef einst. Und auch Clevers Gertrud steht für eine ganze Personengruppe, insbesondere für die alternde Generation.
Weise ist Gertrud. Sie kann nur ihre Verbitterung nicht verbergen. Der Alterungsprozess erschreckt sie, sie hasst ihren dicken Körper und erkennt: "Böse macht das Alter." Die Trauer um den Mann und der Verlust der Söhne machen ihr die einsame Gegenwart unerträglich. Zwar erkennt sie ihre Lage, kann sich daraus jedoch nicht befreien. Gerne würde sie sterben, hat aber gleichzeitig Angst davor. "Für wen lebe ich?" fragt sie. Und antwortet selbst: "Für mich." Das reicht jedoch nicht. Am Ende schreitet sie langsam von der Bühne: "Ich verschwinde ganz leise." Holger Mehlig


Berliner Zeitung
: Feuilleton |

   
Doppelter Stanislawski
Schleefaneignung durch Schleefenteignung: Berliner Ensemble, Neuhardenberg, Sangerhausen
Detlef Friedrich
Das deutsche Sprechtheater ist abschussreif und soll krepieren", wünschte Einar Schleef und fügte hinzu: "Und wer vor Angriffen Angst hat, darf eh nicht zum Theater gehen. Dann muss man zu Hause als Mimose leben. Denn sobald man sich diesen Betrieben nähert, ist man der letzte Arsch. Ich kenne keinen Künstler, der das unbeschadet überstanden hätte." So sprach der Theatermann vor gut zwei Jahren. Es hat wohl doch alles keinen rechten Sinn, sagte sich der Mensch dann vor gut einem Jahr, und verschied unerwartet, zu früh und so alt wie Brecht.
Der Erneuerer des Brecht-Theaters, auf eine Art wie sie sich Brecht nicht geträumt hätte, wurde 57, ein Jahr älter als das Vorbild, das er im BE vor der Wende wie nach der Wende verwarf und überwandt. Brecht starb im Jahr der Chruschtschowrede und des Ungarnaufstandes, die enttäuschten Hoffnungen werden einen Anteil gehabt haben. Schleef starb, als die Wende sich als bloße Drehung erwies. Die Erkenntnis, dass er einsam steht, dass statt seiner die Theaterchefs der alten Bundesrepublik die Theater führen werden, wird seinen Anteil gehabt haben.
Brecht, der Glücklichere, war in schwierigen Zeiten auf seine Frauen bezogen, Schleef auf sich selber. Schüler konnte ein Einar Schleef nicht haben. Nun finden sich die Erben ein. Manche sind älter als der Meister, folgen ihm aus Eigensinn in eigener Bitterkeit nach. Edith Clever sprach, deklamierte, memorierte, intonierte, persiflierte am Sonnabend auf der Bühne des Berliner Ensembles eine von dem Schaubühnendramaturgen Dieter Sturm hergestellte Strichfassung der beiden Bände von Schleefs Roman "Gertrud".
Zwei Stunden stand, saß, schritt, verharrte, fingerzeigte Edith Clever auf mählich erhellter Bühne: darauf ein Baum mit Bank, ein Küchentisch mit Stühlen, viel Traurigkeit, noble Melancholie und die Schauspielerin als Prophetin ihrer selbst. Die Clever warf die Arme hoch und stieß sie hinab, gestikulierte nach rechts und nach links. Erzog das unartige Publikum, welches hustete, mit der Ermahnung, sie sei nicht aus Holz. Freilich, ohne Zuschauer würde so ein Theater besser funktionieren.
Die Clever spreizte mit der Guterzogenheit einer Dame die Hände fein bei schrulligen Texten, wo man sich die vom Lande stammende Gertrud eher wie beim Sauerkrautkochen vorstellen möchte. Die Clever gab die großartige konzentrative, seelenstarke, einfältige, schauspielsportliche Leistung einer herbstlichen Jüngerinnennachfolge, die sich in die 67-jährige Figur Gertrud aus Sangerhausen einfühlte, als gelte es den doppelten Stanislawski zu springen. Soziale Genauigkeit ist bei so viel Gefühlsenthusiasmus nicht zu erwarten. Edith Clever will Gertrud nicht zeigen, will Gertrud sein. Sie interessiert sich für die Gebresten und Gebrechen, für ihre Wehmut, ihre Einsamkeit, ihre Sterbeangst, ihre Sohnesliebe, den Ekel vor dem Körper, für das überzeitlich Altfrauenhafte.
Dass sich Edith Clever so einfühlt, ist nur konsequent. "Gertrud" als Roman der DDR-Depression, als Buch, das wie kein anderes der deutschen Literatur erzählt, wie sich der verwaltete Mensch in Krankheiten flüchtet und wieder in Tatendrang verfällt, wie er einen Staat hasst und ihn doch akzeptiert, wie er leidet, wächst, sich arrangiert, scheitert, hat die Regisseurin Edith Clever, als sie die Schauspielerin Edith Clever inszenierte, nicht bedrängt. Um Gertrud "vorzuzeigen", hätte sie ja das Leben in einer DDR-Kleinstadt erlernen müssen.
Edith Clevers Gertrud ist aus Wuppertal, Husum, Ingolstadt, aus Sangerhausen nicht. Und wenn es nicht Schleefs DDR-Provinz sein sollte, hätte man sich aus anderer Literatur besser bedienen können. Fast wirkt es respektlos, - das ist mit Achtung vor Clevers künstlerischen Gestaltungswillen und Clevers schauspielerischen Vermögen gesagt -, dass die alte Schaubühne im BE nun jede Erinnerung an das alte BE verwischt. Das Alte treibt das Alte aus, das ist die neue Kunst. Vielleicht passt ja dazu, dass man im Foyer für die Pause jetzt "Kulinarisches" vorbestellen kann: den "Brechtteller" für 3,30 Euro: Bullette, Brot, Gewürzgurke, Schusterjunge, Schmalz, oder den "Weigelteller" für 4,50 Euro: 3 Sorten Rohmilchkäse, Baguettebrötchen, Oliven.
Die schwarz-weiß-rote Vereinnahmung findet in Neuhardenberg statt, wo bis 9. November (!) die Ausstellung "Einar Schleef Deutsche Szenen" läuft, eine empfehlenswerte Gelegenheit, die in den achtziger und neunziger Jahren entstandenen großformatigen Gemälde zur deutschen Teilung zu sehen, die Schleef als Maler von hohem Rang ausweisen. Doch ist das im Wesentlichen die Ausstellung von Hans Jürgen Syberberg, der an dem wilden Einar Schleef aus der Barbarossagegend etwas Deutschtümelndes ausgemacht haben will, was den Künstler Syberberg, fast eine Generation älter, zum Jünger werden ließ.
Die filmische Performance auf zwei Etagen, mehreren Leinwänden und Bildschirmen gleichzeitig, zielt auf Vereinnahmung. Auf die Frage, was die Kakaphonie der Gleichzeitigkeit eigentlich solle, antwortet Syberberg: Etwas wird schon hängen bleiben.
Beim Zappen bleibt auch immer was haften. Das weiße Bett, in dem Syberbergs angebeter junger deutscher Gott Einar seine wochenlangen Depressionen ertrug, steht frisch bezogen im märkischem Sand mitten im Filmsalat dabei, erhält Licht durch Fragmente der "Nietzsche-Trilogie", die auf es projiziert werden. Davor läuft auf Schleefs Fernsehapparat ein Video der Gruppe Take That. Der nackte Jüngling und die Schäferhunde, die durch die unterirdischen Gänge des Theaters einem ungewissen Ausgang entgegenlechzen, hält Syberberg für Daseinserkenntnis, nicht für das, was es war, Fingerübung für das "Sportstück" in Wien. Schleefs Gang in die Ewigkeit kam rechtzeitig, damit Syberberg durch Dienen wahrgenommen wird. Es hat die Neuhardenberg-Show etwas Riefenstahlhaftes, es gehört zu den schwer zu verarbeitenden Eindrücken der Performance im gewesenen Marxwalde, dass die konservierten Nietzsche-Monologe Schleefs in der Endlosschleife wie Reichsparteitagsreden klingen.



23.09.2002
Deutschland. Weiche. Mutter.
Berliner Ensemble: Edith Clevers Hommage an Einar Schleef
Von Rüdiger Schaper
„Fliehen wovor. Die Kindheit abschließen, das Unmündigsein, um erwachsen zu werden und schuldig. Um mit Falten zu sagen: Das habe ich nicht gewollt. Ich bin immer dagegen gewesen. Ein ganzes Volk, was seine Vergangenheit verschlingt, das Aas unter der Erde versteckt, um es, wenn es Zeit ist, wieder hervorzuholen.“
Ein Tagebucheintrag Einar Schleefs aus dem Jahr 1981 – da hatte er „Gertrud“ niedergeschrieben, den ersten Band des monumentalen Romans seiner Mutter, seiner Kindheit, seiner deutschen Obsession. Da lebte er im Westen, der Riese aus dem Osten, dem alle deutsche Staatlichkeit eng und bedrohlich war. Schleef starb im Sommer 2001 in Berlin, einsam im Krankenhaus, als habe das selbstzerstörerische Genie dieses Theatermannes, Dichters und bildenden Künstlers noch im Tod eine schreckliche Klage und Anklage manifestieren müssen.
Schleefs Laufbahn hatte in den frühen siebziger Jahren am Berliner Ensemble begonnen. Bei Claus Peymann, dem heutigen BE-Direktor, feierte er seinerzeit in Wien mit dem siebenstündigen „Sportstück“ der Elfriede Jelinek einen seiner größten Theatertriumphe. Jetzt lädt das BE (in Koproduktion mit dem Burgtheater) zu einem „Totenfest“ für Einar Schleef. Edith Clever spielt, sie hat sich selbst inzeniert – als „Gertrud“, als deutsche Mutter.
Ein seltsamer Abend am Schiffbauerdamm: So viele Fäden laufen hier zusammen, und so vieles kommt offensichtlich nicht zusammen, was zu Schleef, zu Edith Clever, zum BE gehört. Erschien es der Solistin und ihrem Dramaturgen Dieter Sturm zu platt, auf jene Passagen im Buch „Gertrud“ anzuspielen, die vom Besuch der Mutter in Berlin erzählen, von den heiß umstrittenen ersten Premieren des „Filius“? War es Clever und Sturm nicht fein genug, in die grässliche Bedrängung der DDR-Provinz, in das Kleinbürger-Kuckucksnest Sangerhausen am Harz hinabzusteigen, wo Mutter Schleef lebte und starb, immer in Gedanken an den verlorenen Sohn?
Und natürlich hat man registriert, dass die „Gertrud“-Premiere auf den Geburtstag der Schaubühne fiel. Edith Clever hat den rigiden Zeitenwechsel an ihrem alten Haus nie wirklich verwunden. Verblüffende Parallelen: Als Edith Clever mit Peter Stein und dem Schaubühnen-Ensemble Geschichte schrieb, setzte auch der junge Schleef am Berliner Ensemble Wegmarken, hinter die das ernst zu nehmende Theater (der DDR) nicht mehr zurückfallen konnte. Hier und jetzt aber: hebt die große Schauspielerin zu einem ortlosen, zeitlosen Sprechgesang an, zelebriert Endungen und Emotionen, und ihr blaublütiger Gestus stellt sich in den auffälligsten Gegensatz zu Schleefs berserkerhafter Sprachwut.
Mit der Anrufung des Kyffhäuser, des teutonischen Olymp, setzt die Cleversche Theaterfassung der „Gertrud“ ein. Eine dunkel gewandete Frauengestalt schält sich hinter einem Gazevorhang aus der Finsternis, als hätte noch einmal Hans Jürgen Syberberg die Hand im Spiel. Nein: schwerdeutsch-lastend ist die Séance nicht, aber doch schicksalhaft-raunend. Einlullend. Zuweilen enervierend. Ein unglaublicher Kraftakt: Über zwei Stunden steht, sitzt, wiegt sich die Clever allein auf der großen Bühne, am Katzentisch der vereinsamten Witwe, unter dem großen Pappelbaum (Bühne: Thomas Gabriel), und mit einigen spanischen Reitern im Hintergrund ist die Grenzfrage, die deutsche Teilung aufreizend knapp abgetan.
Wer ist sie? Gertrud vielleicht, die mörderische Mutter Hamlets? Oder eine Penthesilea, schon weit in der zweiten Hälfte eines kriegerischen, entsetzlich einsamen Lebens? Sie kann auch komische Züge annehmen – wenn sie von „Edith“ erzählt, der Ziege. Gertruds Gegend ist ländlich, Krieg und Kriegsschäden sind noch immer spürbar, die DDR war auch, das liest man bei Schleef, ein schlecht gepflegtes, ärmliches Museum deutscher Geschichte.
Wer ist sie? „Mitten in meiner Triefigkeit bricht das auf, kippe in ein Fleischloch. Kratze mich, meine Erregung, presse Bauch und Schenkel zusammen: Ich bin läufig.“ Eine Frau über Fünfzig, die plötzlich von sexuellem Verlangen überfallen wird und nicht mehr eins sein kann mit ihrem Körper: Solche Wort muss man erst einmal aussprechen, sich zutrauen! Es sind die eindrücklichen Zeichen der Tragödie: Wie Edith Clever sich windet, wie sie sich kasteit mit Worten, als müsse etwas Totes, Ungeborenes aus ihr heraus. Und dann wieder: Was gräbt sie da mit dem Spaten das Erdreich um? Warum ist der Sohn so weit fort, dass man unwillkürlich beginnt, Schleefsche Gewaltauftritte in der Erinnerung zu durchleben; als Puntila, als Nietzsche...
„Gertrud. Ein Totenfest“ wird zur höchst persönlichen, intimen Hommage. Edith Clever liest ihn anders. Schleef, von Schleef befreit. Sangerhausen, in der Gloriole des manchmal zuckersüßen, manchmal peitschenden Singsangs der alten Schaubühne. Das DDR-Milieu, enthistorisiert und in einen ewig-düsteren Himmel über Deutschland gehoben. Die Freiheit der Interpretation, die gerade das DDR-Theater exemplarisch entwickelt hat, erscheint hier in ungewohntem Licht: keine assoziative Textzertrümmerung, sondern klassische Idealisierung. Kein Fass aufgemacht, vielmehr eine Opferschale gefüllt. Kein Prolet-Kult, sondern kultische Handlungen einer Priesterin. Hat man nicht auch nach Schleef-Inszenierungen gesagt: Es war quälend große Kunst?
Wieder am 26.9. sowie 1.und11.10. Zum Seitenanfang 2002 © Verlag Der Tagesspiegel GmbH
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Im Kuttenkleid

"Gertrud. Ein Totenfest": Edith Clever spielt Einar Schleef am Berliner Ensemble
Von Petra Kohse
"Schon beim Aufstehen ist mir schlecht. Regen. Kotzübel. Die Alte gegenüber sitzt wieder am Fenster. Unten im Laden das Wahllokal. Bisschen Papier und Fähnchen, Wachsnelken. Ich setze mich auf den Fußboden, kratze zwischen den Schenkeln, die blaue Schlafanzughose zerrissen. Scheiße, bin ich müde. Die hat nicht angerufen." Mit diesen Sätzen beginnt ein Bericht von Einar Schleef über den Wahlsonntag 1976, den letzten, den der damals 32-Jährige in der DDR miterlebte. "Gabi ruft nicht an. Liegt der Hörer auf. Ich hebe an, Zeichen. Ich bin wieder im Bett, ich hätte zuschlagen können. Ich geh nicht, ich geh nicht zur Wahl, brüllte sie, heulte. Jetzt wo ich in den Westen fahren kann, geht die nicht zur Wahl, ich trenn mich von der, Schluss, die macht mich verrückt."
Wie er sich seinerzeit auf der Suche nach seiner Lebensgefährtin machte, deren Staatsbürgerinnengehorsam er brauchte, um seine Arbeitserlaubnis für den Westen nicht wegen subversiver Privatkontakte wieder zu verlieren, gestaltete der Schriftsteller, Maler und Theatermacher in mehreren Anläufen.
Die Perversion, Differenz mit Einverständnis zu bezahlen. Das Erlebnis, dass es vielen befreundeten Künstlern, die zuvor noch nie wählen gegangen waren, ebenso ging in jenem Jahr. Und die traumatisierende Erkenntnis: "99 %. Jetzt sind wir auch dabei." Es gibt von diesem Bericht eine Fassung in der Ich-Form, eine in Er-Form, es gibt Kommentare dazu und Kommentare des Kommentars. Der tagebuchartige Stil ist gebaut, das minutiöse Festhalten der eigenen Gesten und Gänge der fast kriminalistische Versuch, den eigenen Verhältnissen auf die Schliche zu kommen. In Gertrud, dem zweibändigen Roman über seine Mutter, den Einar Schleef dann nach seiner endgültigen Ausreise im Westen schrieb und der 1980 und 1984 bei Suhrkamp erschien, brachte er diesen obsessiven Naturalismus zur Meisterschaft. Auf vielen hundert Seiten vertonte er das alltägliches Tun seiner Mutter, ihre Gespenster und Gelüste, und gab gerade durch die akribischste Konturierung des persönlichsten Einzelfalles einem exemplarischen Leben Gestalt: Gertrud S., eine Arbeiterin im Südharz während des Krieges, in der Ehe, als zweifache Mutter, in der DDR, als von ihren Söhnen Verlassene, als Witwe. Das Leben, ein Reden. Ein unablässiges Vorsichhinsprechen in kunstvoll verkürzten Sätzen, Beiläufiges und Schicksalhaftes in nicht enden könnender Reihung.
Unter dem Titel Gertrud. Ein Totenfest kamen Teile des Prosamammuts jetzt am Samstag auf der Bühne des Berliner Ensembles zur Uraufführung. Die Schauspielerin Edith Clever, für ihre monologischen Alleingänge berühmt, hat mit dem Dramaturgen Dieter Sturm eine eigene Fassung hergestellt. Der Untertitel dieser Koproduktion mit dem Burgtheater Wien verweist nicht nur auf das Fest, das Gertrud im Erinnern den eigenen Toten gibt, sondern erinnert auch an den Tod des Autors im Juli letzten Jahres.
Wie Schleef bezieht sich Clever in ihrer Arbeit auf die Antike. Mit der ornamentalen und prozessorientierten Bühnenästhetik, die für ihn daraus resultierte, verbindet sie allerdings ebenso wenig wie mit seiner formalen Differenzierung. Die Innensicht des Individuums war für Schleef ein literarisches Thema, während er auf der Bühne die Außensicht des Kollektivs entwarf, dem der Einzelne entstammt. Edith Clever hingegen bringt seit langem vor allem Prosa auf die Bühne, und der alleinige Ausgangs- und Endpunkt ihrer Darstellungen ist stets die tragische Geworfenheit.
So steht sie denn, in der ersten Szene des Abends hinter einem Gazevorhang mit dem Rücken zum Publikum, schwarz gekleidet, im Dunkeln, und nur ihre zum Himmel erhobenen Hände leuchten wie sonst nur Sterne oder die Unschuld.
"Blickt man jetzt zum Kyffhäuser, die Straßen strecken sich alle zu ihm im Flachen", hebt sie an. "Pappeln an jedem Knick paarweise. Aufgereiht." Später sieht man links auf der mit Kies bestreuten Schräge einen Baum mit wunderlich verschlungenen, schlangendicken Ästen, vorne rechts Tisch und Stühle auf einem Teppich und hinten rechts eine Grenzabsperrung, die aussieht wie eine Reihe umgestürzter Grabkreuze (Bühne: Thomas Gabriel).
Dazwischen Edith Clever im Kuttenkleid, gebeugt und schweren Schrittes, das Haar grau und strähnig, der Blick nach oben, nach unten, nach innen. Fliegender Ton, manchmal heiser knarzend, dann wieder singend, nie wie für sich, sondern nach vorne gerichtet, trompetend manchmal, schnauzend, als würde diese Gertrud wieder und wieder gefragt und müsse jetzt ein für alle Mal hier Antwort geben. Dabei ist es doch so: dass sie redet, weil niemand fragt. Ganz andere Geschichte also im BE und bei Clever. Ohne den Umweg über den Einzelfall und unter Weglassung des sozialen Rahmens wird direkt aufs Ganze gezielt. Auf den tragischen Schmerz, das Alter an sich, das Vergehen. Gesetzte Gesten illustrieren das Sprechen und machen es zum Ritual. Die Erinnerung an die Großmutter am Webstuhl, den sterbenden Ehemann, das offene Bein. Es wird nicht davon gesprochen, um zu leben, sondern gelebt, um davon zu sprechen.
Exzellente Textkenntnis übrigens, Ehrensache. Einmal bittet Edith Clever im Gertrud-Ton, das Husten zu unterlassen. Als kurz darauf ein Telefon klingelte, zuckte das Publikum schuldvoll zusammen. Gertrud - eine Exerzitie.
Am Ende war der Beifall groß. "Was für eine Leistung!" hieß es beim Hinausgehen. "Und das mit dem Handy", rief ein Mittdreißiger, "das war ein Skandal!" Dann spannte er seinen Schirm auf, denn draußen hatte der Herbst eingesetzt. Es regnete in Berlin, und das tat es am nächsten Morgen beim Aufwachen noch immer. Wahlsonntag. Bisschen Papier und Fähnchen. Keine Wachsnelken.
Berliner Ensemble, 26. September, 1. Oktober.
 
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 22.09.2002 um 21:06:05 Uhr
Erscheinungsdatum 23.09.2002
 

 

 



DIE WELT
Montag, 23. September 2002     Berlin,

Papperlapapp mit Pappel 
Edith Clever dramatisiert in Berlin Einar Schleefs Roman "Gertrud"
Von Matthias Heine
Aus den Brettern des Berliner Ensembles reckt sich eine Pappel in die Düsternis. Es ist natürlich nur die oberflächliche Idee einer Pappel, die vom Bühnenbildner Thomas Gabriel mit ein paar Kunstschnörkeln dekoriert worden ist. Dieser Baum ist das Totem der Uraufführung von "Gertrud". Edith Clever und Dieter Sturm haben Einar Schleefs Roman dramatisiert. Man sieht nicht wirklich Theater, bloß eine Lesung mit Auf-und-Ab-Gehen, Händeheben und einem bisschen Mimik. Der blanke Text, kompiliert aus 900 Seiten dieses "Totenfests" für Schleefs Mutter garniert mit ein paar dezenten Kunstschnörkeln.
Edith Clever spielt selbst die Gertrud und hat auch Regie geführt. Das klingt nach einer idealen Konstellation, hatte doch Schleef, dieser Sprechfetischist bereits gesagt, eigentlich sei "Gertrud" kein Roman, "sondern ein Theaterstück, ein Monolog, man müsse es halblaut sprechen." Und die Schauspielerin Edith Clever, ästhetische Bannerträgerin der alten Berliner Schaubühne, verkörpert mehr als fast alle anderen, was Sprechkultur einmal bedeutete. Doch leider bleibt von ihrer Kunst wenig mehr als das Wort: SPRECHKULTUR, in marmorne Versalien gehauen. Zweieinhalb Stunden lang stößt Clever nicht ein einziges Mal in einen Raum jenseits der bloßen Textbeterei vor, niemals fügt sie mit ihrem Spiel der Schleefschen Wortwelt eine Dimension hinzu.
Die politische Ebene des Romans ist ohnehin weitgehend weggekürzt. Kaiserreich, Weimar, Drittes Reich, DDR - das ist hier alles fast unsichtbare Hintergrundtapete eines ganz innerlichen Kampfes um Selbstbehauptung. Nur wogegen? Gegen Krankheit, Alter, den siechen Mann, ja klar. Aber war da nicht noch etwas anderes? Es ist nicht zu hören, nicht bloß weil die Aufführung in ihrer perfekten Ödnis manchmal schlicht zum Weghören zwingt, sondern weil es nicht mehr da ist. Von einem ekstasebereiten Publikum, das den Anlass nutzte, um sich an schöne Schaubühnen-Zeiten zu erinnern, wurde der Abend dennoch bejubelt.