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Nachrichten : Kultur
6.04.2002
 
Wildes Lachen unter schwerstem Weh
 
Sie waren die Primadonnen der Schaubühne. Nun kehren sie zurück nach Berlin - aus Wien: Edith Clever inszeniert Becketts "Glückliche Tage" mit Jutta Lampe. Premiere ist am Sonntag im Berliner Ensemble
 
Wie muss man sich das vorstellen, wenn Edith Clever bei einem Monolog von Jutta Lampe Regie führt? Spielen Sie vor?
EDITH CLEVER: Wenn mir die Worte fehlen, ja. Es geht um die Verständigung - und natürlich nicht um ein Vorspielen, das wäre Quatsch.
JUTTA LAMPE: In Becketts "Glückliche Tage" geht es dauernd darum, dass Winnie wahrgenommen, gehört, gesehen werden will. Wenn man das nicht bräuchte, bräuchte man keine Außenwelt, keine anderen Menschen. Der Blick von außen, der Blick des Regisseurs ist etwas vollkommen anderes als die Selbstwahrnehmung.
Sie haben als Schauspielerinnen eine lange gemeinsame Geschichte. Ist das Lust oder Last, wenn Edith Clever Regie führt?
LAMPE: Wir sprechen die selbe Sprache, wir haben eher gemeinsame Vorstellungen davon, was Theater, Text, Schauspielerei ist. Wir können uns vertrauen.
CLEVER: Obwohl wir ganz unterschiedliche Schauspielerinnen sind! Jutta Lampe ist wahrscheinlich viel ausschließlicher am Innenleben der Figuren interessiert. Und ich interessiere mich auch für Form und Raum. Was löst das in mir aus, wenn ich nichts mache, als im Raum einen Finger zu heben? Wir sind da etwas unterschiedlich gepolt.
Auf Ihrem Niveau wird es zunehmend schwieriger, solche Arbeitspartner zu finden?
LAMPE: Das ist wohl so. Ich finde die ganze Theatersituation ungut. Mal da, mal hier zu spielen als Gast, das hat nichts mit dem zu tun, was ich unter Theater verstehe.
CLEVER: Wir sind ja mittlerweile dankbar, wenn wir Möglichkeiten bekommen, unter guten Umständen zu arbeiten. Es war letzten Endes ein normaler Prozess, dass sich die alte Schaubühne aufgelöst hat. Was uns aber seitdem fehlt, ist ein fester Ort. Ich habe in Darmstadt inszeniert, das sind gute Schauspieler, ein gutes Theater, sehr ernsthafte Leute. Doch es kostet viel Kraft, sich immer neu einrichten zu müssen und sich die Basis zu schaffen.
LAMPE: Man ist ein Einzelkämpfer. Das ist etwas, was ich als absurd empfinde in der augenblicklichen Theatersituation. Ich bin jetzt gezwungen, von Produktion zu Produktion zu wandern.
Das klingt, als seien Sie eher melancholisch gestimmt. Samuel Beckett hat in Berlin "Glückliche Tage" leicht, aber gar nicht tragisch inszeniert.
CLEVER: Er wollte es wohl leise, zurückhaltend, keine Nummern. So wie er die Figur beschreibt, denkt man ja wirklich, das ist eine selbst in der Wüste noch im Saft stehende, etwas dralle, lebenslustige Person. Ich habe das Gefühl, dass es Beckett nicht um einen bestimmten Typ ging, sondern darum, dass diese Fülle des Fleisches verschwindet im Lauf des Stücks.
LAMPE: Winnie sagt, dass ihr "Fleisch schmilzt und die Nacht des Mondes soundsoviel hundert Stunden dauert". Das ist ihre Vorstellung von einem langsamen Vergehen. Darüber rettet sie sich mit vielen kleinen Spielen, mit Erinnerungen und Worten.
CLEVER: Machen wir etwas anderes? Wir haben andere Requisiten, mehr Ablenkung. Beckett hat diese Menschheitssituation stark radikalisiert. Über den Tag retten müssen wir uns alle.
Winnie zitiert "Wildes Lachen unter schwerstem Weh". Definition der Tragikomödie?
CLEVER: Natürlich hat dies etwas mit der Situation zu tun. Aber Winnie tut alles, damit es kein Drama wird. Winnie versucht einen Schritt über den Abgrund hinweg, ganz schnell. Wenn etwas auf sie zukommt, dann findet sie eine Volte. Sie will die Laune bewahren, sich nicht überwältigen lassen vom Schrecken.
"Glückliche Tage" handelt unter anderem vom Sterben. Winnie hat mehr Vergangenheit als Zukunft.
LAMPE: Aber Winnie gibt nicht auf. Sie hat eine Pistole, doch sie wird ihrem Leben wahrscheinlich kein Ende machen.
CLEVER: Das ist ein Thema Becketts, der sicher auch manchmal an der Schwelle war, aber eben doch weitermacht. Ich kann zwar nicht mehr weitermachen, aber ich muss weitermachen, das ist "Glückliche Tage".
Es ist auch eine Liebesgeschichte. Winnie sagt zu ihrem Mann, den man meist nicht sieht, du hast um mich geworben, bis zur Hochzeit, danach kein Wort mehr.
LAMPE: Doch, "Pikanterien aus der Illustrierten". Er liest ihr gerne Zeitungsartikel vor. Eine typische Ehe! (Lacht)
Wobei sie im ersten Teil sehr viel bösartiger zu Willie ist als im zweiten.
LAMPE: Bösartig ist sie überhaupt nicht. Sie ist eigentlich furchtbar lieb zu ihm, kleine Stiche hier und da, das ist schon alles. Eine typisch praktische Frau.
CLEVER: Wir sehen Winnie und Willie ja nicht, als sie frisch verliebt waren, da war wohl mal was. Aber jetzt ist es eine Geschichte über Mann und Frau. Die Bedürfnisse eines Mannes sind tragischerweise einfach andere als die einer Frau. "Findest du mich liebenswert, fandest du mich jemals liebenswert, bin ich schön ... ", sagt sie.
LAMPE: Eine Frau muss das immer hören. Ein Mann braucht das nicht. (Gelächter) Sie weiß, "das sind eben die Naturgesetze".
Im ersten Teil ist Winnie bis zur Taille in Sand eingegraben, im zweiten ragt nur noch ihr Kopf heraus. Was ist dazwischen passiert?
LAMPE: Sie ist noch einsamer geworden. Die Erde, das ist das Grab.
CLEVER: Es ist ein großer theatralischer Moment, dass im zweiten Teil alles ins Gesicht verlegt wird. Diese starke Reduktion, die Beckett in den späten Stücken zur Vollendung gebracht hat, das fängt hier an. Die ganze Existenz ist nur noch in den Augen und den Gedanken. Beckett hat gesagt, der erste Teil ist farbig, und der zweite Teil ist weiß, auch in der Sprache. Schon im ersten Teil macht Beckett formal hoch interessante Sachen, indem er Gestik und Sprache trennt.
Wie erleben Sie dieses Korsett der genau vorgegebenen Bewegungen, Pausen, Zäsuren?
LAMPE: Wie eine Partitur, die man eisern lernen muss, wie moderne Musik. Das ist hart am Anfang, man muss sich wahnsinnig disziplinieren. Trotzdem muss man darin leben und die Freiheit darüber gewinnen. Es muss auch Spaß machen, diese Vorgaben einzuhalten, sie sich anzueignen.
CLEVER: Und wie in der Musik ist es ein großer Unterschied, wer diese Partitur spielt. Jede Winnie-Schauspielerin ist ihre eigene Winnie. Es geht ja alles durch diesen Körper, durch diese Psyche hindurch. Ich würde es ganz anders spielen als Jutta Lampe. Ich würde mich manchmal noch eiserner an die vorgefügte Form halten.
LAMPE: Ach, ja?
CLEVER: Mich würde sehr interessieren, was dabei herauskäme, wenn man das noch strenger beherzigte.
An der Schaubühne gab es früher nur eine einzige Beckett-Aufführung, "Mercier und Carmier". Ist das nicht erstaunlich?
CLEVER: Vielleicht lag das daran, dass nicht genug Schauspieler untergebracht werden konnten. Das Ensemble musste ja immer bedient werden. (Gelächter)
LAMPE: Ich nehme an, es hat mit dem Älterwerden zu tun, dass Beckett wichtiger für mich geworden ist. Ich habe Becketts Inszenierungen von "Warten auf Godot" und "Endspiel" in den 70er Jahren im Schiller-Theater gesehen. Ich fand das bemerkenswert, aber es hat mich noch nicht erreicht.
CLEVER: Die späten Sachen, die er fürs Fernsehen gemacht hat, zum Beispiel "Quadrat I" und "Quadrat II", haben mich schon vor Jahren umgehauen. Nicht überbietbar in der Radikalität der Aussage. Für mich ist das ein Gleichnis für das Leben des Menschen: Man wird auf ein Tablett geworfen, und dann rennt man drauf rum. Man schreckt vor dem Rand, vor dem Abgrund zurück, dann rennt man noch ein paar Runden und wird wieder weggeschleudert. Es sind immer die selben Abläufe, es bleibt alles gleich, aber der Mensch nützt sich dabei ab, und irgendwann gibt es ein Ende. Es ist dermaßen eindrucksvoll, dass Beckett seine Gedanken so verdichten konnte, dass er nur noch dieses Quadrat brauchte und diese Figuren, um damit komprimiert auszudrücken, was er über das Leben und das Menschsein denkt.
Hat die Abwesenheit eines Heilshorizonts eine religiöse Dimension?
CLEVER: Ja, absolut! Dieser Mut, in den Abgrund zu schauen und trotzdem weiterzuleben, das hat religiöse Qualitäten. Mich tröstet, dass man dem ins Auge schauen kann.
LAMPE: Wenn ihn die Abwesenheit Gottes beschäftigt, ist das eine religiöse Frage, ein Schmerz über etwas nicht Vorhandenes.
 
Das Gespräch führte Peter Laudenbach.
 
 
 
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