DER STANDARD
Sa./So., 1./2. Dezember 01
(Aufmacher Wochenendbeilage ALBUM)
Warten auf Bob
Bericht aus der ungewöhnlichen Werkstatt von
Opern- und Theaterregisseur Robert Wilson
Symbolist und Reduktionist, Bild-, Bewegungs- und Lichtmagier lauten die
Attribute, mit denen der Opern- und Theaterregisseur Robert Wilson versehen
wird. Vergangenen Sonntag feierte seine Inszenierung von Wagners "Siegfried"
im Zürcher Opernhaus Premiere. Cornelia Niedermeier besuchte Wilson in
seinem Versuchslabor Watermill auf Long Island, wo er diese und andere
Produktionen generiert.
Ein Kiesweg führt den Fremden den Hügel hinauf durch den Laubwald von
Watermill. Oben erwartet ihn ein ernstes Empfangskomitee: Fünfzig Stühle
stehen, in gravitätischer Leere, am Hang. Fünfzig Hauptdarsteller. Robert
Wilson, der texanische Minimalist unter den Opern- und Theater-regis-seuren,
Schöpfer geheimnisvoll leuchtender Bühnenwelten und Herr aller Stühle, der
Sammler und Erfinder der ausgefallensten Exemplare dieser statischen
Vierbeiner, hat sie hier jeden Sommer postiert.
Weitere Besessene finden sich 100 Meter weiter, unter den weißen Zeltdächern
der Arbeitsflächen: eine Kirchenbank von 1836, ein gelber John-Smith-Chair,
Bühnenstühle einer Wilsonschen Ibsen-Inszenierung, der berühmte "Hamlet"-
Stuhl, oder ein rostendes Exemplar, das seine Jugend im Pariser Jardin du
Luxembourg hinbrachte, bevor es der texanische Liebhaber entwendete.
In wenigen Wochen werden erneut Lastwagen vorfahren in Watermill und die
Stuhlwesen werden zurückreisen nach New York, in Wilsons 600-qm-Loft, das
neben seiner ständig anschwellenden Kunstsammlung wenig Wohnraum bietet. Viel
Raum allerdings ist nicht nötig. Maximal zehn Nächte verbringt der Regisseur
jährlich in New York. Den Rest des Jahres ist er auf Reisen - oder in
Watermill.
Zwei Monate lang, jeden Sommer. Auch im nächsten Jahr. Wenngleich der 11.
September auch auf Watermill Spuren hinterlässt, unsichtbar für das bloße
Auge: Die Spenden, von denen das eigenwillige Unternehmen nahezu
ausschließlich getragen wird, fließen seither spärlicher. Der weitere Ausbau
wird sich erneut verzögern . . . Dennoch: Robert Wilson schätzt und benötigt
die sonnigen Tage auf Long Island als Ruhepol eines rastlosen Lebens. Wenn
auch für den durchschnittlichen Besucher die Tage des Robert W. alles andere
wirken als ausgerechnet still. Am späten Vormittag taucht er auf, um im
nächsten Augenblick schon wieder verschwunden zu sein, im Laufschritt um die
Ecke des grauen Fabrikgebäudes gebogen, den Hang hinab in den Keller.
Der hat den Charme einer durchschnittlichen Großgarage. In die allerdings
vier Schreibtische hineinimprovisiert wurden, auf deren Oberfläche sich Kabel
drängen, Telefone, Faxgeräte, Computer, Blumenvasen und wieder Kunst. An den
provisorisch verputzten Wänden eine Fotogalerie, Originale von Man Ray und
Nadar, Fotografien von Bert Brecht und Helene Weigel, Marlene Dietrich und
Merce Cunningham. Das Büro.
Seit dem frühen Morgen organisieren hier Wilsons Assistenten den Fortgang der
Bauarbeiten und die Betreuung seiner künstlerischen Projekte. Faxe werden
gesandt, Mails geschickt. Eine Stunde arbeitet er konzentriert. Oben, in den
Arbeitszelten, warten unterdessen sechs hölzerne Arbeitstische und ungezählte
Stühle auf Bob. Dort sollen im Lauf des Tages die verschiedenen
Working-Groups sich versammeln, die Arbeitsgruppen zur Vorbereitung der
unterschiedlichsten Wilson-Projekte.
Fünfzehn Projekte standen in diesem Sommer auf dem Programm, sie sind das
offizielle Herz der Watermill-Centers, das sich, laut Satzung, als
"internationales, multidisziplinäres Institut für die Kreation und
Entwicklung neuer Arbeiten in Theater, Musik, Film, Tanz und visuellen
Künsten" versteht. Neuer Wilson-Arbeiten, wohlgemerkt. 2001 gilt es, diversen
Operninszenierungen erste Konturen zu verleihen - für künftige Produktionen
in Hamburg (St. Fran¸cois d'Assise von Messiaen im Jahr 2003), Zürich
(Götterdämmerung und der nunmehr herausgebrachte Siegfried - siehe Seite 2),
Brüssel (Aida) und Paris (Die Frau ohne Schatten) -, Land-Art-Projekten in
Füssen und Kopenhagen, mehreren Ausstellungen, Tanztheater.
Über fünfzig junge Mitarbeiter, Schauspieler, Tänzer, Architekten aus aller
Welt hat Wilson, wie in jedem Jahr, für zwei Monate nach Watermill geholt, um
gemeinsam mit ihnen die künstlerischen Fundamente zu erstellen. Wenn es so
weit ist. Wann das sein wird, weiß keiner, nicht einmal Wilson selbst. Fixe
Strukturen sind ihm ein Gräuel.
Also ist Warten auf Bob eine der Hauptbeschäftigungen in Watermill. Nicht
tatenlos allerdings. Auch hier sei Bob vor: Gartenarbeit, Bauarbeiten,
Küchendienst zählen ebenso zu den Pflichten von Watermill wie die Reinigung
der Toiletten in den Wasch-Containern. "Die beste Architektur ist keine
Architektur", das Credo des Exarchitekten aus Waco, Texas, der sich nach
Abschluss des Studiums entschloss, statt starrer Gebäude seine fließenden,
atmenden, ephemeren Bühnenwelten zu erdenken, gilt auch für die Gestaltung
des Tages.
Aufgabenfelder werden ebenso wenig definiert wie Räume in Watermill. Alles
ist Moment, alles ist Improvisation. Wo gestern noch ein mehrere Hundert
Menschen fassendes Zelt stand, stecken heute Schnüre die Originalmaße der
Zürcher Opernbühne ab. Dazwischen schreitet der Regisseur, sinniert über die
Räume für Götterdämmerung.
Vor nunmehr neun Jahren, 1992, erwarb die von Robert Wilson gegründete Byrd
Hoffman Foundation das Gelände inmitten der Hamptons auf Long Island, dem
Strandparadies des New Yorker Geldadels. Seither arbeitet er daran, das alte F
abrikgebäude, ein ehemaliges Forschungslabor der Western Union, in dem einst
Zukunftsprojekte wie das Faxgerät ersonnen wurden, umzubauen. Jeden Sommer
wird gebaut und gleichzeitig die Summer-Workshops abgehalten. Zwischen
Schubkarren und Schutt platziert Wilson Statuen aus Bali oder Malaysia sowie
die Arbeits-Inseln.
Wenig scheint vorangegangen zu sein in den letzten neun Jahren, noch immer
dienen Container als Toiletten, eine Holzbaracke als Küche. Das mag am
fehlenden Geld liegen. 15 Millionen Dollar veranschlagt "The Facility Five
Year Plan Capital Needs", Wilsons finanzieller Fünf-Jahres-Plan für die
Ausbaustufen A bis H. Dieser Summe hinterher inszeniert er für Höchstgagen
rund um die Welt. Opernproduktionen am Fließband. Wobei sich stets
Kunstobjekte obszön in des Künstlers Blickfeld schieben und nach Kauf
verlangen.
Noch heute hält er bei Ausbaustufe A. Und freut sich der Arbeitszelte, deren
luftige Flexibilität (nicht-definierte Räume. Wieder fällt das Zauberwort)
ihn entzückt. Weniger allerdings Richard Gluckman, den New Yorker Architekten
des Watermill- Umbaus. Also begibt sich Wilson sommers artig auf Gelderwerb
uramerikanischer Art. Fund-Raising-Tour durch die Hamptons. Best Friend den
schwerreichen Nachbarn. Weshalb die Mittagsstunde nach der Büro-Zeit heute
wieder nicht, wie vorgesehen, den Workshops gehört. Sondern Katharina. Denn
Katharina wartet mit gezückter Video-Kamera auf ein Interview. Katharina
heißt mit Nachnamen Otto - ganz recht, wie der Billig-Versand - und ist
Hobby-Filmerin. Seit drei Jahren filmt sie Bob. Irgendwann, so erzählt sie,
soll das Material einem Fernsehsender übermittelt werden. Die nächste Stunde
also ist Katharina reserviert. Werden Fragen beantwortet nach Kindheit,
Mutter - "a cold bitch" - Kunst. 45 Minuten später ein Aufschrei: wie dumm,
Katharina hatte vergessen, einen Film einzulegen. Neustart des Interviews.
Mit Gummistiefeln und Arbeitshandschuhen bewaffnet, rollt unterdessen Maria
einen Schubkarren durchs Gelände. Marias schwarzer Jeep schiebt sich täglich
über die Hügelkuppe von Watermill, 4-5 Stunden lang hilft sie bei der
Gartenarbeit. Sie sei "Ambassador of Watermill", Fürsprecherin des Projekts
bei den eingesessenen Hamptonians, so Maria über Maria. Wie jeder hier eine
höchst individuelle Erklärung für die eigene Funktion und die von Watermill
hat, so sieht sie die Fabrik als "open place", in dem einst Long Islands
Kinder und Rentner Nachhilfestunden in Kunst belegen werden. Interessante
Variante. Im Garten hilft sie, um abzunehmen. Ihre Freundinnen besuchen
Aerobic-Stunden. Sie zieht es zur Kunst. Maria Pessino-Rothwell ist Erbin des
Bacardi-Konzerns.
Was die Wilson-Factory auf Watermill nun tatsächlich ist, sein wird oder sein
soll, scheint ebenso wenig fixierbar wie des Regisseurs fluktuierende Räume.
Vielleicht ist Watermill aber gerade das: einer von Robert Wilsons
undefinierten Orten. Think Tank, unruhiger Ruhepol, Lebens-Baustelle,
Begegnungsort junger Kreativer. "Vielleicht ist es diese Atmosphäre, die den
besonderen Reiz hier ausmacht", beschreibt die junge schottische Bildhauerin
Tassy Thompson, die seit vier Jahren den Sommer hindurch auf Watermill
arbeitet, ihre Sicht des Ortes.
Das permanente Gewusel der Menschen auf dem Gelände komme ihr vor "wie ein
lebendes Breughel-Gemälde. Wir alle sind ein Stück Papier und jeden Morgen
kommt Bob und zeichnet neue Muster." Man arbeite miteinander, lerne
voneinander. Eigentlich sei sie in diesem Jahr zur Vorbereitung eines
Land-Art-Projects in Füssen eingeladen, des "Ludwig-Projekts". Noch warte man
aber, dass Bob die Gruppe einberufe.
Statt dessen habe sie Baggerfahren gelernt, Tanztechniken beim morgendlichen
Training mit den professionellen Tänzern. In einer Woche wird sie zu
zurückkehren nach Edinburgh, um mit Straßenkindern zu arbeiten und
Drogensüchtigen. Ob das Ludwig-Projekt dann gestartet ist, ist ungewiss. Und
unwesentlich.
Andere kehren nicht in ihre frühere Umgebung zurück. Christian Wassmann, der
26-jährige Schweizer Architekt, arbeitet seit fünf Jahren mit Wilson,
gestaltet Ausstellungräume und Modelle für Bühnenbilder. Mittlerweile lebt er
das ganze Jahr über in New York, hat eine feste Stelle im angesehen
Architektur-Büro von Stuart Hall.
Von Wilson habe er gelernt, mit gleich bleibender Konzentration an mehreren
Projekten parallel zu arbeiten, erklärt Wassmann. Früh schon habe ihm Bob,
der Vielbeschäftigte, die eigenverantwortliche Ausführung mancher seiner
Ausstellungen übertragen. Ein Vertrauen, das Selbstbewusstsein und Erfahrung
einträgt, wie viele hier bestätigen.
Wieder andere werden dennoch nicht nach Watermill zurück kehren. Nicht jedem
behagt die von östlicher Philosophie inspirierte Unterordnung unter den
Willen des omnipräsenten Meisters, oder die Verpflichtung zur
Toilettenreinigung. Künstler-KZ, Arbeitslager - auch diese Definitionen von
Watermill kursieren im Gelände. Meist vor dem Essen. Serviert Ismail Ahmad,
der malayische Koch-Star, der in diesem Sommer für die Verköstigung der
Fünfzig gebeten wurde, seine Artefakte kulinarischer Art, herrscht Stille an
den üppig mit Blumen geschmückten Tischen. Für Momente scheint Wilsons
Konzept der Integration von Kunst ins Leben verdauend bejaht.
Gegen 17 Uhr das unerwartete Signal: eine Arbeitsgruppe, der sogenannte
"Aventis-Workshop" wird einberufen. Auch so ein schwer definierbares Projekt.
Sicher ist nur der Geldgeber, der Pharma-Konzern Aventis. Vor zwei Jahren
trat die Aventis-Stiftung an Wilson heran, man wolle ein Projekt finanzieren,
das das Leben im 21. Jahrhundert spiegele. Kein Problem. Prompt wurde 1999
eine Studiengruppe internationaler Wissenschaftler einberufen, in Watermill
zu debattieren.
2000, einen Sommer später, hatte das ganze ein neues Gesicht: nun sollte ein
gewisser Jean-Claude von Italy ein Stück verfassen: The Return of the Flood
lautete der ebenso kryptische wie vielversprechende Arbeitstitel. Paul Simon,
ein Freund Wilsons, solle den Soundtrack komponieren. Uraufgeführt werden
sollte The Return of the Flood bei den Salzburger Festspielen 2003, wo Jürgen
Flimm im kommenden Jahr die Schauspiel-Leitung übernimmt, ein langjähriger
Freund Robert Wilsons und in seiner Zeit als Intendant des Hamburger
Thalia-Theaters Mitinitiator erfolgreicher Projekte wie des international
umjubelten Musicals Black Rider.
Ort und Zeitpunkt der Aufführung heißen auch in diesem Sommer noch Salzburg
2003. Nur das Aventis-Projekt ist ein anderes: Die Versuchung des Hl.
Antonius von Gustave Flaubert, wird dem verblüfften Manager des Konzerns
erklärt, eigne sich hervorragend, die Probleme der Zukunft zu beschreiben.
Die Suche, die Sinnkrise. Die Musik solle Lou Reed komponieren. Man denke an
einen Gospel.
Der Workshop beginnt. Zwanzig Menschen sitzen um einen Tisch.
Produktions-Dramaturg Felix trägt Geschichte und Inhalt des Flaubert-Textes
vor. Wilson greift zum Bleistift. Kurze Anweisungen: Noch einmal den Inhalt,
Felix. Szene für Szene bitte. Was interessiert, sind Daten: Anzahl der
Personen, Dauer der Szene. Die Grundstimmung - möglichst auf ein Wort
verkürzt ("give me the subtext. One word, please.").
Die Information muss genügen. Lesen wird Wilson das Stück vermutlich nie. Er
verlässt sich auf seine Intuition und seine Dramaturgen. Auf die Kraft der
poetischen Sprache im interpretationsoffenen Raum. Unbegreiflich ist ihm, dem
Künstler des Abstrakten, Unerklärbaren, der reinen Form, die Sucht der
Europäer nach Begründung.
Wilson zeichnet, skizziert Räume. Schnell schießt der Bleistift übers Papier.
Andächtige Stille, unterbrochen vom regelmäßigen Surren des motorisierten
Spitzers, in den er den Stift taucht wie den Pinsel ins Wasserglas. Ein
Blatt, ein Raum je Szene. Nach einer Stunde ist der Workshop beendet. Sieben
Bilder sind gezeichnet. Akt eins nimmt optische Gestalt an.
Unmittelbar anschließend Workshop zwei: Götterdämmerung. Wieder versammeln
sich zehn Mitarbeiter um einen Tisch. Wieder Erklärungen, höchste
Konzentration. Wieder surrt der Bleistift-Spitzer, entstehen Quadrate auf dem
Papier. Dazwischen ein hässliches Knacksen: Mary, die hysterische
Journalistin des Christian Science Monitor, seit Tagen mit Atemmasken in
einen einsamen Kampf gegen den Watermill-Staub verstrickt, hatte ihr Gewicht
unterschätzt und sich auf einem der zarten Sammlungsvierbeiner
zusammengefaltet.
Das versehrte Stuhlwesen wird umgehend in die Werkstatt getragen, wo helfende
Hände sich seiner annehmen. Seine stillen Artgenossen geleiten den Gast zum
eisernen Ausgangstor. Schweigende Zeugen eines jährlich wiederkehrenden
Rituals. Im Herbst erwartet sie New York. Zehn Monate lang heißt es dann
wieder: Warten auf Bob. Und Watermill. []
Vor nunmehr neun Jahren, 1992, erwarb die von Robert Wilson gegründete Byrd
Hoffman Foundation das Gelände inmitten der Hamptons auf Long Island, dem
Strandparadies des New Yorker Geldadels. Seither arbeitet er daran, das alte
Fabriksgebäude, ein ehemaliges Forschungslabor der Western Union, in dem
einst Zukunftsprojekte wie das Faxgerät ersonnen wurden, umzubauen. Jeden
Sommer wird gebaut, gleichzeitig werden die Summer-Workshops abgehalten.
Zwischen Schubkarren und Schutt platziert Wilson Statuen aus Bali oder
Malaysia sowie die Arbeits-Inseln.
Wenig scheint vorangegangen zu sein in den letzten neun Jahren, noch immer
dienen Container als Toiletten, eine Holzbaracke als Küche. An Geld herrschte
in Watermill schon vor dem 11. September notorischer Mangel. 15 Millionen
Dollar veranschlagt "The Facility Five Year Plan Capital Needs", Wilsons
finanzieller Fünfjahresplan für die Ausbaustufen A bis H. Dieser Summe
hinterher inszeniert er für Höchstgagen rund um die Welt. Opernproduktionen
am Fließband. Wobei sich stets Kunstobjekte obszön in des Künstlers Blickfeld
schieben und nach Kauf verlangen.
Noch heute hält er bei Ausbaustufe A. Und freut sich der Arbeitszelte, deren
luftige Flexibilität (nicht definierte Räume - wieder fällt das Zauberwort)
ihn entzückt. Weniger allerdings Richard Gluckman, den New Yorker Architekten
des Watermill-Umbaus. Also begibt sich Wilson sommers artig auf Gelderwerb
uramerikanischer Art. Fund-Raising-Tour durch die Hamptons. Best Friend den
schwerreichen Nachbarn. Weshalb die Mittagsstunde nach der Bürozeit heute
wieder nicht, wie vorgesehen, den Workshops gehört. Sondern Katharina. Denn
Katharina wartet mit gezückter Videokamera auf ein Interview. Katharina heißt
mit Nachnamen Otto - ganz recht, wie das Versandhaus - und ist Hobbyfilmerin.
Seit drei Jahren filmt sie Bob. Irgendwann, so erzählt sie, soll das Material
einem TV-Sender übermittelt werden. Die nächste Stunde also ist ihr
reserviert. Werden Fragen beantwortet nach Kindheit, Mutter ("a cold bitch"),
Kunst. Zum Schluss plötzlich ein Aufschrei: Wie dumm, Katharina hatte
vergessen, eine Kassette einzulegen. Neustart des Interviews.
Mit Gummistiefeln und Arbeitshandschuhen bewaffnet, rollt unterdessen Maria
einen Schubkarren durchs Gelände. Marias schwarzer Jeep schiebt sich täglich
über die Hügelkuppe von Watermill, vier bis fünf Stunden lang hilft sie bei
der Gartenarbeit. Sie sei "Ambassador of Watermill", Fürsprecherin des
Projekts bei den eingesessenen Hamptonians, so Maria über Maria. Wie jeder
hier eine höchst individuelle Erklärung für die eigene Funktion und die von
Watermill hat, so sieht sie die Fabrik als "open place", in dem einst Long
Islands Kinder und Rentner Nachhilfestunden in Kunst belegen werden.
Interessante Variante. Im Garten hilft sie um abzunehmen. Ihre Freundinnen
besuchen Aerobic-Stunden. Sie zieht es zur Kunst. Maria Pessino-Rothwell ist
Erbin des Bacardi-Konzerns.
Was die Wilson-Factory auf Watermill nun tatsächlich ist, sein wird oder sein
soll, scheint ebenso wenig fixierbar wie des Regisseurs fluktuierende Räume.
Vielleicht ist Watermill aber gerade das: einer von Robert Wilsons
undefinierten Orten. Think-Tank, unruhiger Ruhepol, Lebens-Baustelle,
Begegnungsort junger Kreativer. "Vielleicht ist es diese Atmosphäre, die den
besonderen Reiz hier ausmacht", beschreibt die junge schottische Bildhauerin
Tassy Thompson, die seit vier Jahren den Sommer hindurch auf Watermill
arbeitet, ihre Sicht des Ortes. Das permanente Gewusel der Menschen auf dem
Gelände komme ihr vor "wie ein lebendes Breughel-Gemälde. Wir alle sind ein
Stück Papier und jeden Morgen kommt Bob und zeichnet neue Muster." Man
arbeite miteinander, lerne voneinander. Eigentlich sei sie zur Vorbereitung
eines Land-Art-Projekts in Füssen eingeladen, des "Ludwig-Projekts". Noch
warte man aber, dass Bob die Gruppe einberufe.
Stattdessen habe sie Baggerfahren gelernt, Tanztechniken beim morgendlichen
Training mit den professionellen Tänzern. In einer Woche wird sie
zurückkehren nach Edinburgh, um mit Straßenkindern zu arbeiten und
Drogensüchtigen. Ob das Ludwig-Projekt dann gestartet ist, ist ungewiss. Und
unwesentlich.
Andere kehren nicht in ihre frühere Umgebung zurück. Christian Wassmann, der
26-jährige Schweizer Architekt, arbeitet seit fünf Jahren mit Wilson,
gestaltet Ausstellungräume und Modelle für Bühnenbilder. Mittlerweile lebt er
das ganze Jahr über in New York, hat eine feste Stelle im angesehen
Architekturbüro von Stuart Hall.
Von Wilson habe er gelernt, mit gleich bleibender Konzentration an mehreren
Projekten parallel zu arbeiten, erklärt Wassmann. Früh schon habe ihm Bob,
der Vielbeschäftigte, die eigenverantwortliche Ausführung mancher seiner
Ausstellungen übertragen. Ein Vertrauen, das Selbstbewusstsein und Erfahrung
einträgt, wie viele hier bestätigen.
Wieder andere werden dennoch nicht nach Watermill zurückkehren. Nicht jedem
behagt die von östlicher Philosophie inspirierte Unterordnung unter den
Willen des omnipräsenten Meisters, oder die Verpflichtung zur
Toilettenreinigung. Künstler-KZ, Arbeitslager - auch diese Definitionen von
Watermill kursieren im Gelände.
Gegen 17 Uhr das unerwartete Signal: eine Arbeitsgruppe, der so genannte
"Aventis-Workshop" wird einberufen. Auch so ein schwer definierbares Projekt.
Sicher ist nur der Geldgeber, der Pharmakonzern Aventis. Vor zwei Jahren trat
die Aventis-Stiftung an Wilson heran, man wolle ein Projekt finanzieren, das
das Leben im 21. Jahrhundert spiegle. Kein Problem. Prompt wurde 1999 eine
Studiengruppe internationaler Wissenschafter einberufen, in Watermill zu
debattieren.
2000, einen Sommer später, hatte das Ganze ein neues Gesicht: Nun sollte ein
gewisser Jean-Claude von Italy ein Stück verfassen: The Return of the Flood
lautete der ebenso kryptische wie viel versprechende Arbeitstitel. Paul
Simon, ein Freund Wilsons, solle den Soundtrack komponieren. Uraufgeführt
werden sollte The Return of the Flood bei den Salzburger Festspielen 2003, wo
Jürgen Flimm im kommenden Jahr die Schauspielleitung übernimmt, ein
langjähriger Freund Robert Wilsons und in seiner Zeit als Intendant des
Hamburger Thalia-Theaters Mitinitiator erfolgreicher Projekte wie des
umjubelten Musicals Black Rider.
Ort und Zeitpunkt der Aufführung heißen auch in diesem Sommer noch Salzburg
2003. Nur das Aventis-Projekt ist ein anderes: Die Versuchung des Hl.
Antonius von Gustave Flaubert, wird dem verblüfften Manager des Konzerns
erklärt, eigne sich hervorragend, die Probleme der Zukunft zu beschreiben.
Die Suche, die Sinnkrise. Die Musik solle Lou Reed komponieren, mit dem
gemeinsam Robert Wilson eben den von Edgar Allan Poe inspirierten Song-Zyklus
POEtry herausbrachte (der noch bis 8. Dezember an der Brooklyn Academy of
Music zu hören und zu sehen ist).
Der Workshop beginnt. Zwanzig Menschen sitzen um einen Tisch.
Produktionsdramaturg Felix Schnieder-Henninger trägt Geschichte und Inhalt
des Flaubert-Textes vor. Wilson greift zum Bleistift. Kurze Anweisungen: Noch
einmal den Inhalt, Felix. Szene für Szene bitte. Was interessiert, sind Daten
- Anzahl der Personen, Dauer der Szene. Die Grundstimmung - möglichst auf ein
Wort verkürzt ("give me the subtext. One word, please.").
Die Information muss genügen. Lesen wird Wilson das Stück vermutlich nie. Er
verlässt sich auf seine Intuition und seine Dramaturgen. Auf die Kraft der
poetischen Sprache im interpretationsoffenen Raum. Unbegreiflich ist ihm, dem
Künstler des Abstrakten, Unerklärbaren, der reinen Form, die Sucht der
Europäer nach Begründung.
Wilson zeichnet, skizziert Räume. Schnell schießt der Bleistift übers Papier.
Andächtige Stille, unterbrochen vom regelmäßigen Surren des motorisierten
Spitzers, in den er den Stift taucht wie den Pinsel ins Wasserglas. Ein
Blatt, ein Raum je Szene. Nach einer Stunde ist der Workshop beendet. Sieben
Bilder sind gezeichnet. Akt eins nimmt optische Gestalt an.
Unmittelbar anschließend Workshop zwei: Götterdämmerung. Wieder versammeln
sich zehn Mitarbeiter um einen Tisch. Wieder Erklärungen, höchste
Konzentration. Wieder surrt der Bleistiftspitzer, entstehen Quadrate auf dem
Papier. Dazwischen ein hässliches Knacksen: Mary, die hysterische
Journalistin des Christian Science Monitor, seit Tagen mit Atemmasken in
einen einsamen Kampf gegen den Watermill-Staub verstrickt, hatte ihr Gewicht
unterschätzt und sich auf einem der zarten Sammlungsvierbeiner
zusammengefaltet.
Das versehrte Stuhlwesen wird umgehend in die Werkstatt getragen, wo helfende
Hände sich seiner annehmen. Seine stillen Artgenossen geleiten den Gast zum
eisernen Ausgangstor. Schweigende Zeugen eines jährlich wiederkehrenden
Rituals. Im Herbst erwartet sie New York. Zehn Monate lang heißt es dann
wieder: Warten auf Bob. Und Watermill.