Betreff: SZon Schlaf
Datum: 16. Mai 2006 13:27:56 MESZ
An: HJS@syberberg.de
KulturStudie über den Tod: Bondy inszeniert Fosses «Schlaf»
Wien (dpa) Die Alte versucht aufzustehen, aber es will nicht gehen. Ihr Mann
umfasst sie an der Taille, zieht sie hoch, wankt selbst - und dann klappt es
doch; unbeholfen halten sie sich aneinander fest, nicht sicher stehend, aber
doch nicht fallend.
In diesem brüchigen Zustand zwischen Entgleiten und Fassen hält Regiemeister
Luc Bondy in seiner Wiener Festwochen-Inszenierung das neue Drama «Schlaf» des
norwegischen Autors Jon Fosse über 90 Minuten hinweg in der Schwebe. Das
Premierenpublikum am Sonntagabend im Wiener Akademietheater spendete langen,
herzlichen Applaus für eine sanfte, eindringliche Studie über den Tod.
Fosse, dessen still-melancholische Dramen wie «Da kommt noch wer» oder «Traum
im Herbst» seit einigen Jahren auch die deutschsprachigen Bühnen erobern,
bringt das Ungesagte zwischen seinen Protagonisten zur Sprache. Die Dialoge bleiben
rudimentär und hilflos, das Schweigen zwischen den abgebrochen Sätzen
ist das eigentliche Zentrum seiner Stücke.
In «Schlaf» lässt er Paare in einer Wohnung aufeinander treffen,
die einander nicht wahrnehmen: Fosse legt verschiedene Zeitebenen übereinander,
die Figuren begegnen sich selbst in einer anderen Lebensphase. Vergangenes und
Zukünftiges, Mögliches und Realisiertes wird gleichzeitig sichtbar.
Der Titel legt dabei die Assoziation zum Psalmwort «Komm o Tod, du Schlafes
Bruder» nahe.
Studie über den Tod: Bondy inszeniert Fosses «Schlaf»
Wien (dpa) Die Alte versucht aufzustehen, aber es will nicht gehen. Ihr Mann
umfasst sie an der Taille, zieht sie hoch, wankt selbst - und dann klappt es
doch; unbeholfen halten sie sich aneinander fest, nicht sicher stehend, aber
doch nicht fallend.
In diesem brüchigen Zustand zwischen Entgleiten und Fassen hält
Regiemeister Luc Bondy in seiner Wiener Festwochen-Inszenierung das neue Drama «Schlaf» des
norwegischen Autors Jon Fosse über 90 Minuten hinweg in der Schwebe. Das
Premierenpublikum am Sonntagabend im Wiener Akademietheater spendete langen,
herzlichen Applaus für eine sanfte, eindringliche Studie über den
Tod.
Fosse, dessen still-melancholische Dramen wie «Da kommt noch wer» oder «Traum
im Herbst» seit einigen Jahren auch die deutschsprachigen Bühnen
erobern, bringt das Ungesagte zwischen seinen Protagonisten zur Sprache. Die
Dialoge bleiben rudimentär und hilflos, das Schweigen zwischen den abgebrochen
Sätzen ist das eigentliche Zentrum seiner Stücke.
In «Schlaf» lässt er Paare in einer Wohnung aufeinander treffen,
die einander nicht wahrnehmen: Fosse legt verschiedene Zeitebenen übereinander,
die Figuren begegnen sich selbst in einer anderen Lebensphase. Vergangenes
und Zukünftiges, Mögliches und Realisiertes wird gleichzeitig sichtbar.
Der Titel legt dabei die Assoziation zum Psalmwort «Komm o Tod, du Schlafes
Bruder» nahe.
Bondy greift diesen Hinweis auf und schafft in seiner musikalischen Inszenierung
mit einem weitgehend homogenen Ensemble ein leises, berührendes Rondo über
Todesarten. Da ist der langsame körperliche Tod der «älteren
Frau» (Edith Clever) und das rührend hilflose Bemühen des «älteren
Mannes» (Martin Schwab), ihr Dahinschwinden aufzuhalten mit seinen Armen,
mit Erinnerungen, mit Beschwörungen.
Da ist der langsame, qualvolle Tod der Beziehung zwischen dem «mittelalten
Mann» (Werner Wölbern) und der «mittelalten Frau» (Sylvie
Rohrer), der sich schon im ersten Auftritt des jungen Paares andeutet. Der
hässliche Kinderwagen, vom «jungen Mann» (Raphael Clamer)
im Überschwang gekauft, bleibt leer, die Distanz zwischen den Partnern
wird immer größer. Da ist die gespenstische Begegnung zwischen der älteren
Frau und dem mittelalten Mann, die weit in die Zukunft reicht und mit plötzlicher
Aggression Ängste freilegt.
Bondy zeigt sich einmal mehr als Meister des Details. Immer wieder laufen Bewegungen
der Figuren ineinander wie musikalische Motive, minimale Verschiebungen deuten
das Kippen an. Auf der reduzierten Bühne (Karl-Ernst Herrmann, Kostüme:
Moidele Bickel) konzentriert sich alles auf die Sprachlosigkeit der Figuren
und ihre Unbeholfenheit mit sich selbst.
«
Schlaf» wird in dieser deutschsprachigen Erstaufführung, die als
Koproduktion von Wiener Festwochen und Burgtheater entstanden ist, zu einer
melodiösen Reflexion über den Tod und die Zeit, über Möglichkeiten
und verpasste Chancen und nicht zuletzt über die Unfassbarkeit des Lebens.
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(Stand: 15.05.2006 12:26)
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Und
alle Lebensentwürfe führen in die Verzweiflung
Wiener Festwochen: Luc Bondys mitreißende Inszenierung von Jon Fosses
jüngstem Stück "Schlaf"
Von Armgard Seegers
Wien -
Wenn im Mai die Wiener Festwochen beginnen, gibt es kaum einen schöneren
Ort auf der Welt als Wien. In diesem Jahr, in dem Freud und Mozart Jubiläen
feiern, präsentiert sich die Stadt mit einem besonders opulenten Kulturprogramm,
das Zuschauer aus aller Welt anlockt. Auf der Bühne kann man Schauspieler
sehen, die sich die deutschen Theater schon lange nicht mehr leisten (können).
Klar, daß das Publikum begeistert ist.
-Anzeige-Am Wochenende hat Festwochendirektor Luc Bondy mit Jon Fosses jüngstem
Stück "Schlaf" die Wiener Festwochen im Akademietheater eröffnet.
Die Dramen des Norwegers, der seit Jahren zu den Lieblingsautoren der deutschen
Theater gehört, erzählen gewöhnlich recht düstere Geschichten
von Paaren und Familien, die sich wortkarg mißverstehen. Bondy, den man
eher bei französischen Salonstücken oder zeitgenössischen Gesellschaftsparabeln
zu Hause weiß, wagt sich mit Fosse auf scheinbar unbekanntes Terrain.
Er hat das Stück kühl wie ein Drama von Botho Strauß inszeniert:
klar, unpsychologisch, ohne Spielereien. Und siehe da, es paßt. Daß man
sich auf einer Vernissage im 80er-Jahre-Berlin wähnt, mag damit zusammenhängen,
daß die weiße, mit wenigen Requisiten ausgestattete Bühne
von Karl-Ernst Hermann entworfen wurde und daß Moidele Bickel für
die Kostüme sorgte. Die beiden waren lange Jahre dafür mitverantwortlich,
daß die Berliner Schaubühne Deutschlands aufregendstes Theater war.
Wenn auch noch Edith Clever auf der Bühne steht, die große Schaubühnen-Heroine,
dann ist fast schon die gute alte Zeit des bundesrepublikanischen Theaters
wiederauferstanden. Folglich saß im Publikum so ziemlich alles, was im
deutschen Theater mal wichtig war (und auch noch ist).
"
Schlaf" erzählt die Geschichte von zwei jungen Paaren, die unerkannt
voneinander zwei unterschiedliche Lebensentwürfe spielen. Da ist das junge
Paar - sie ist naiv, er nüchtern -, das eine Wohnung mietet, Kinder bekommt
und im Alter voneinander abhängig ist und füreinander da ist. Und
da ist das andere junge Paar, das dieselbe Wohnung mietet - sie ist ehrgeizig,
er bequem -, das kinderlos bleibt, weil sie es so wünscht, das sich trennt.
Sie (Sylvie Rohrer) verschwindet mit einem anderen (Klaus Pohl), er (Werner
Wölbern) verbringt sein Leben mit Warten und verkommt dabei immer mehr.
Die drei auch in Hamburg bekannten Schauspieler zeigen virtuose Einzelleistungen.
Sylvie Rohrer als Suchende, die nie genug hat, Werner Wölbern als hoffnungsvoll
Leidender und Klaus Pohl als frecher Hausfreund überzeugen aber, wie der
Rest des Ensembles, durch glänzendes Zusammenspiel.
Fast könnte man das Stück als eine Parabel auf die derzeit die Gesellschaft
bewegende Debatte über Bindungsschwäche und Kinderlosigkeit lesen.
Aber das Stück erzählt mit wenigen Worten mehr. Indem es die drei
Altersstadien der Paare zeigt, erzählt es auch etwas über den Kreislauf
des Lebens, über die Zukunft, die überall präsent ist und über
die Geister der Vergangenheit, die uns verfolgen.
Wenn die Alte (Edith Clever) kaum noch gehen kann, immer wieder zusammenbricht
und von ihrem Mann (Martin Schwab) liebevoll versorgt wird, erkennen wir auch
die Angst vor dem Verlassenwerden, die den schlurfenden Alten umtreibt. Der
Sohn (Christian Nickel), der nur einmal zu Besuch kommt, zeigt die Sprachlosigkeit,
das Mißverstehen, das die Generationen trennt, und die Selbstbezogenheit
der Jungen.
Man kann viel über unsere Gesellschaft in diesem Stück erfahren,
obwohl nicht allzuviel gesagt wird. Wo anfangs Hoffnung ist, ist am Ende Verzweiflung.
Egal, wie man sein Leben lebt. Vielleicht gefällt uns diese Wahrheit nicht.
Regisseur Bondy und seine ausnahmslos großartigen Schauspieler erzählen
nicht mehr als das. Auch wenn wir gern mehr gesehen hätten.
erschienen am 16. Mai 2006
FEUILLETON
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16. Mai 2006, Neue Zürcher Zeitung
Wiener Festwochen
Die vier Lebenszeiten
Luc Bondy mit «Schlaf» von Jon Fosse im Akademietheater
Die Legende will, dass Baron von Kayserling, russischer Botschafter zu Dresden,
sich in den Schlaf geleiten liess durch den Cembalisten Goldberg, der Bachs
nach ihm genannte Variationen spielte. Wenn Luc Bondys wundersame Festwochen-Inszenierung
am Wiener Akademietheater ausklingt mit ein paar leisen Takten dieser einzigartigen
Musik, geht es allerdings um einen besonderen Schlaf: den Tod, der, am Ende
des Lebens lauernd, dieses bestimmt. Aus Jon Fosses «Schlaf» werden
in Wien dennoch keine «Todesvariationen» - so heisst ein anderes,
ebenfalls metaphysisch angehauchtes Stück des norwegischen Dramatikers
-, sondern ganz im Gegenteil Variationen über das Leben. Bondy und seine
Schauspieler stellen es, dem wortkargen, im Wiederholungsgestotter klappernden
Sprachgerüst der Vorlage getreulich folgend, dar in seiner überwältigend
facettenreichen Vielfalt aus Freud und Leid, Hoffnung und Enttäuschung.
Wobei, ungewohnt für den sonst eher die Komik in der Tragik suchenden
Regisseur, alles von einer sanft-abgründigen Melancholie durchweht ist.
Sommer und Winter
Zur Zeit wird hier der Raum: In der leeren Wohnung, wo Karl-Ernst Herrmann
stehen lässt, was die letzten Mieter nicht einpackten - einen schmutzigen
Heizkörper, ein Aquarium, einen Abfallbehälter -, folgen sich die
Jahre und mit ihnen die Generationen. Vier Paare leben da; nacheinander,
miteinander, durcheinander. Oder sind es bloss zwei? Bondy schafft Doppelgänger;
dem einen jungen Pärchen ordnet er ein mittelaltes, dem anderen ein
altes zu. Adina Vetter schleicht zu Beginn mit Schneeflocken auf dem roten
Kapuzenmantel herein, in dessen Taschen sie Hände und Gefühlsimpulse
vergräbt; Raphael Clamer, ihr Partner, trägt komplementäres
Grün, wenn er das zukünftige Zuhause in Tanzschritten durchmisst,
welche abrupt stoppen vor der - mit ihm, mit sich, mit allem - hadernden
Freundin. Die zwei, schon spürt man es, können weder zusammen-
noch voneinander loskommen. Er liebt sie, sie hasst sich selber und wird
jede Gelegenheit nutzen, ihn dafür zu bestrafen (es reicht eine Geste,
die Mimik, die Körperhaltung).
Wie eine solcherart verstrickte Katz-und- Maus-Affäre weitergehen kann
(sie muss es nicht: Es gibt in dieser Inszenierung nur detailreich ziselierte
Vorschläge möglicher Entwicklungen), zeigen Werner Wölbern
und Sylvie Rohrer, von Moidele Bickel in die gleiche Rot-Grün-Kombination
gekleidet. Der mittelalte Mann hockt plötzlich da, am Telefonapparat
auf dem Fussboden . . . Doch greifen wir nicht vor. Denn es
durchkreuzen sich die - ganz konkret alltäglichen und gerade deshalb
nie banalen - Menschenschicksale im durchlässigen Zeit-Raum der Bühne.
Kurzes Stutzen signalisiert inneres Erstaunen, wenn die Personen einander
begegnen, als träfen sie auf Echos von sich selber, auf eine Erinnerung,
eine Vorahnung, einen Traum, eine Befürchtung, einen Wunsch.
Vom Kinderwagen in den Rollstuhl
Neben dem rot-grünen Doppelpaar gibt es das naturfarbene in Grau-Beige-Weiss.
Mareike Sedl und Philipp Hauss betreten als liebreizend naive adoleszente
Partner schon vor Adina Vetter und Raphael Clamer die Stätte ihrer Familie
in spe, in sommerlichem Tenue und fast auf Zehenspitzen, händchenhaltend,
sich umarmend, hingegeben an die Gemeinsamkeit: Kinder aus dem Märchen.
Sie leicht verzagt und sorgenvoll, er beschwichtigend; sie verschämt
und befangen, er einnehmend. Koketterie kennen sie nicht; eine irgendwie
ungelenke Erotik steuert sie und umgibt sie wie ein Heiligenschein. Beide
jungen Männer, Clamer und Hauss, bringen als Überraschung - und
als geschenkverpackte Forderung - einen Kinderwagen mit. Adina Vetter erstarrt,
Mareike Sedl jauchzt: Erstere wird kinderlos bleiben, Letztere bald Mutter
sein - schon sehen wir den stolzen Vater Windelpakete in den Müll werfen.
Und dann steht er plötzlich vor seinem Double. Martin Schwab, gross
und schlank und in hellem Tuch wie Hauss, wirkt wie dessen gealtertes Spiegelbild
(beide kämmen sich: Pointen dieser Art setzt Bondy mit theatralischer
Ironie).
Das reigenhafte Epos vom Werden und Vergehen serviert Jon Fosse in Puzzlestücken;
Bondy erfindet tausend Geschichten dazu, die den dünn skizzierten Dramenfiguren
Konsistenz aus Fleisch und Blut verschaffen. Sie essen - Sylvie Rohrer -
und trinken - Werner Wölbern -, doch geht es da weniger um körperliche
Nahrung als um seelische Kompensation. Immer dasselbe Muster: Der Mann telefoniert
vergeblich, er wartet, er greift zum Bier, dann zum Wodka. Taucht die Frau
auf, tut sie das, um ihn neuerlich zu frustrieren. Gestresst und verkrampft
stopft sie Karotten oder Pizzaschnitten in sich hinein und blickt starr über
den weg, der zu ihren Füssen ausharrt. Sie empfängt einen Liebhaber
(Klaus Pohl); ihn vergelstert ihre fahrige Überschwänglichkeit
aber bloss. Derweil führt Werner Wölbern auf grandiose Weise den
bittersüssen Schmerz unerfüllter Liebe vor, das Selbstmitleid,
die Tröstungen des Alkohols, Verwahrlosung und Zerfall - wie ein Landstreicher
verkriecht er sich im Schlafsack. Kein Zufall, dass gerade er, früh
schon, die alten Frau kennen lernt.
Edith Clever spielt sie (wer sonst könnte das?). Sie erscheint zuerst
allein, den einsamen mittelalten Mann aufstörend und verunsichernd.
Wer bist du, fragt er wiederholt. Du weisst es, antwortet sie, harsch, herrisch,
unerbittlich wie ein Wesen aus einer anderen Dimension. Sie dreht sich im
Kreis, den Blick nach oben geheftet: ein unheimlicher Irrwisch-Tanz - bis
sie umfällt. Der allegorische Spuk hört auf; aus der Personifizierung
von Zeit, Vergänglichkeit und Tod wird jene zerbrechliche, schwache
Frau, die an Martin Schwabs Seite nun den Stock braucht (aber der Stock ist
das dritte Bein aus dem Rätsel der antiken Sphinx - auch im Alltag versteckt
sich Mythisches). Jetzt sehen wir ein Philemon-und-Baucis- Paar, zärtliche
Alte voller Scheu vor dem, was noch kommen wird nach allem, was war. Damals:
der Kinderwagen, jetzt: ein Rollstuhl. - Tapfer stellen sie sich der Aufgabe.
Beim ungeschickten Versuch, Edith Clever aufzuheben, fällt Martin Schwab über
sie, umfängt sie, schiebt sich unter sie - ein tragikomischer Greisen-Liebesakt.
Insgesamt ein glücklich zu zweit gealtertes Paar, würde man denken:
Den Umständen entsprechend gehe es gut, danke, sagt Martin Schwab zu
Christian Nickel, welcher zuletzt als erwachsener Sohn auftritt, in adretten
Sonntagskleidern, die Haare anständig pomadisiert. Doch da bekommt die
vermeintliche Altersidylle einen Riss. Der Sohn wird vom Vater abgekanzelt,
weggestossen, geschlagen. Eine Eruption - die Vergangenheit zischt mit Heftigkeit
aus verborgenen Tiefen empor. Verbissen und schweissüberströmt
schiebt Schwab danach die stumme Clever im Rollstuhl über knirschende
Glasscherben am Bühnenrand, Runde um Runde, an Nickel vorbei, der wie
gebannt von bösem Zauber einfriert. Nein, Anleitungen zum Glücklichsein
im Familienkreis gibt weder Jon Fosse noch Luc Bondy! Dafür aber illustriert
diese Aufführung, indem sie traumwandlerisch den menschlichen Seelengründen
entlanggleitet und Kompliziertes in Einfachem aufhebt, ein heutzutage äusserst
rar gewordenes Theaterglück.
Barbara Villiger Heilig
FR
Zurückliegende Gegenwart
VON PETER IDEN Die Jungen sind alt geworden (ap)
In den inzwischen fast dreißig Stücken des Norwegers Jon Fosse, von
denen einige - Der Name, Traum im Herbst, Die Nacht singt ihre Lieder, Todes-Variationen
- seit Mitte der neunziger Jahre auf den Bühnen des deutschsprachigen Theaters
viel gespielt werden, reden und bewegen sich die Menschen in Zuständen einer
sie ganz und gar erfassenden Benommenheit. Wie in Trance, aus der niemand und
außer dem Tod nichts sie erlösen kann. So, als lebten sie schlafend.
Träumende sind das, sehr bei sich.
Ihre Geschichten haben sie nach innen genommen. Was sie davon in verknappten,
langsamen Sätzen und pausenreichen Dialogen mitteilen, kommt wie von weit,
ist ein skelettierter Rest mehr erinnerter als im Augenblick empfundener Regungen
oder erlebter Begebenheiten. Was sich auf der Bühne von Fosse tut, ist,
indem es gegenwärtig wird, immer schon vergangen.
Das Erinnerte verändert sich im Erinnern
So erzeugen auch die Auftritte der beiden jungen Paare, mit denen Fosses neues
Stück beginnt, Schlaf, dessen deutsche Fassung Luc Bondy jetzt im Programm
der Wiener Festwochen auf die Bühne des Akademietheaters gebracht hat, den
Eindruck von einer Gegenwart, die zurückliegt. Was zu sehen und zu hören
ist, hat sich einmal, vor langer Zeit, vielleicht so zugetragen. Weil aber das
Erinnerte sich verändert im Erinnern, hätte es womöglich auch
anders gewesen sein können, dann auch mit anderen Folgen.
Die beiden Paare betreten den gleichen Raum, jedoch ohne einander wahrzunehmen.
Sie sind gleichzeitig anwesend, aber ihre Zeit ist jeweils eine andere, das Asychrone
der Auftritte vermittelt sich durch Details der unterschiedlichen Kleidung, die
die Kostümbildnerin Moidele Bickel den vier Personen zugedacht hat: Für
das eine Paar ist es Sommer, Winter für das andere. Die offenbar jung Verheirateten
kommen zum ersten Mal in den leeren Raum ihrer fortan gemeinsamen Wohnung. Die
Paare tun das mit zunächst den gleichen Worten freudiger Erwartung an ein
Leben zusammen. Doch schon bald zeigen sich Differenzen. Beide Männer überraschen
ihre Frauen mit einem Kinderwagen, doch reagiert eine der Frauen auf das Requisit
erhofften Familienlebens mit spürbar skeptischer Zurückhaltung.
Darin zeigt sich an, dass die Lebenswege der Paare sich verzweigen werden. Das
kommt in den folgenden Szenen heraus: Die eine Ehe erreicht das Familienglück,
die andere wird von der Frau verlassen, die hinausdrängt in eine Existenz
der beruflichen und erotischen Bestätigung außerhalb der vier Wände.
Ihre Beweggründe und die Konsequenzen der Kinderlosigkeit sind derzeit ein
politisches Thema, diese Aktualität bleibt dem Stück aber eher beiläufig.
Erzählt wird mit Hilfe von Zeitwechseln. Die anfangs jungen Paare erscheinen,
nun von anderen Schauspielern dargestellt, zunächst in ihren mittleren Jahren,
der Mann und die Frau, die sich für Kinder entschieden hatten, auch als
alte Leute, die ein Sohn besucht, seine Mutter ist da schon von einer Todeskrankheit
getroffen, der Vater pflegt sie, gemeinsam mit dem Sohn wird er die Tote auf
einer Bahre aus der Wohnung tragen, die sie als junge Ehefrau einst mit dem Mann
bezogen hatte.
Derart führt das Stück seine Personen durch die Jahre. Nicht kontinuierlich,
sondern in szenischen Überblendungen, die es zum Beispiel möglich machen,
einen jüngeren Mann zusammenzubringen mit seiner Frau als schon einer Greisin,
die er dann nur wahrnehmen kann als eine Fremde.
Wiener Festwochen
Eines der international meist beachteten Kulturfestivals widmet sich in diesem
Jahr dem Andenken Mozarts und Freuds. Unter den ewigen "Top Ten Events" des
Festivals findet sich Mozarts "Don Giovanni" gleich dreifach. "Schlaf" ist
im Wiener Akademietheater zu sehen, 16., 20., 21., 27., 28. Mai, 3., 4., 5. Juni.
www.festwochen.at h.l.
Fosses Schlafbilder der Erinnerung halten sich an kein Zeitmaß, entwickeln
vielmehr eine eigene, tagesferne Logik. Die Dramaturgie des Stücks ist noch
einmal die des Theaters der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, unvermeidlich
lässt Fosses Umgang mit der Zeit denken an Thornton Wilders damals viel
gespieltes Unsere kleine Stadt, an den Engländer Congreve (Die Zeit und
die Conways, Ein Inspektor kommt), auch an Max Frischs Biographie. Ein Spiel.
Das Risiko retrospektiver Lebensbetrachtung lag bei den Stücken damals in
der Verführung zum Abgleiten ins Sentimentale. Es ist auch bei Fosse darin
gegeben, wie er, erkennbar bereits an der Anonymisierung der namenlosen Figuren
(sie heißen: "Die erste junge Frau", "Der erste junge Mann" usw.),
auf eine allgemeine, melancholisch grundierte Lebensmetapher aus ist: So wie
diese Paare zwischen Jugend, den mittleren Jahren und dem Alter leben wir doch
alle, und es ist, mit Strindberg, allemal schade um uns.
Die Zeit als Protagonist des Stücks
Dass dennoch Schlaf der Gefahr nur rührseliger Trauer über die Flüchtigkeit
der Zeit (und unsere Flüchtigkeit in ihr) nicht erliegt, hat vor allem zu
tun mit der seltsam kühlen Lakonik der fragmentarisierten Dialoge und mit
einem Blick auf die Personen, der nüchtern ist und dabei doch teilnehmen
lässt an ihren Lebensgängen. Luc Bondys Wiener Inszenierung wird von
dieser Qualität merklich inspiriert. Das gilt für die Führung
der von einem spannenden Ensemble vorzüglich individualisierten Paare in
ihren verschiedenen Alterstufen, in besonderem Maß aber für Edith
Clever und Martin Schwab, die als alt gewordene Junge, zwei einander Getreue,
am Lebensrand Szenen der Fürsorge (des Mannes für die kranke Frau)
und des tapferen Aufbegehrens gegen das Ende erspielen, mit denen die dichte,
eineinhalbstündige Aufführung großes Format gewinnt. Die Clever
und Schwab geben einer Humanität Ausdruck, die den Abend anrührend
absetzt von manchem Geräusch auf den Theaterbühnen dieser Jahre.
Daran hat Karl-Ernst Herrmanns Bühnenraum wesentlichen Anteil. Die Zeit,
Protagonist des Stücks, hat hier ein Zimmer. Herrmann hat den von keinem
Mobiliar besetzten Guckkasten, leerer Raum träumerischer Projektionen, durch
das leichte Vorziehen der oberen Portalbegrenzung sich ein wenig nach vorne neigen
lassen, auf uns Zuschauer hin - als sollten wir alle hineingenommen werden in
die zerspringenden Zeitbilder des Stücks, Wachbilder eigentlich. - Am Ende
lang anhaltender Beifall für Jon Fosse und alle Beteiligten.
Schlaf, Kindlein, schlaf!
VON BARBARA PETSCH (Die Presse) 16.05.2006
Akademietheater. Luc Bondy inszeniert Jon Fosse, ziemlich langweilig.
Einsilbiges Kunsthandwerk in nobler Verkleidung. Sylvie Rohrer, Edith Clever,
Werner Wölbern (v. l. n. r.) (c)APA
Das Teuerste muss nicht immer das Beste sein. Und nicht jedes Stück eines
Kult-Autors ist auch ein Kult- Stück. Luc Bondy zeigt im Akademietheater
die deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses "Schlaf". Der
47-jährige Norweger hat seit 1994 rund 30 Dramen verfasst, die vor
allem im deutschsprachigen Raum viel gespielt werden: in Berlin, Zürich,
Salzburg. Im Akademietheater war 2001/02 "Traum im Herbst" zu sehen.
Fosses Werke sind keine Well-Made-Plays im engeren Sinne, sondern verschlungene
poetische Gebilde, die ihre alltägliche Erscheinung wie eine Hülle
tragen. Was ist darunter? Vielleicht nur kluges Kalkül.
Eine Wohnung ist der Schauplatz von "Schlaf". Das Stück lässt
an ein Prospero-Zitat denken: "Wir sind aus solchem Stoff, aus dem die Träume
sind und unser kleines Leben ist eingehüllt in Schlaf." In den fast
leeren Räumen treffen Bewohner in verschiedenen Lebensstadien aufeinander.
Eine reizvolle Konstellation. Ein junges Paar freut sich, dass es endlich sein
eigenes Nest hat, träumt von Kindern. Ein anderes junges Paar will ebenfalls
einziehen, der Mann schenkt der Frau einen Kinderwagen, was diese aufbringt statt
begeistert. Dann sind da zwei Alte, sie, von Krankheit gezeichnet, wird im Verlauf
der Aufführung ein Pflegefall, vom Mann rührend, aber auch mit zunehmender
Verzweiflung umsorgt. . .
Kein Geringerer als Karl-Ernst Herrmann hat die Bühne gestaltet, die Leere
subtil akzentuiert. Markante Elemente sind ein Scherbenhaufen, in den immer wieder
jemand krachend hinein tritt, eine verpackte Toilette und der rot besudelte Heizkörper
- Blut? Dieses fehlt dem Geschehen, das wie welkes Laub umher treibt. Dabei sind
eineinhalb Stunden nun wirklich nicht lang. Fosses Text wirkt, abgesehen von
der schönen Grund-Idee, redundant: "Tut dir der Fuß weh?", "Mir
tut der eine Fuß weh", "Hast du ihn dir verletzt?", "Ich
weiß nicht". Worte, Sätze plätschern. Das eine Paar kriegt
Kinder, das andere entzweit sich, sie verlässt ihn, er bleibt im Appartement
. . .
Luc Bondys Inszenierung macht einen zerstreuten und beiläufigen Eindruck.
Vor allem im Mittelteil dehnen sich die Minuten zu Stunden. Dafür, dass
hier Themen verhandelt werden, die jedermann betreffen - Liebe, Tod, Verlassen-Werden,
Einsamkeit, psychischer und physischer Niedergang -, erscheint die Aufführung
fahl und vergilbt.
Dabei ist die Besetzung, wie man es bei einem solchen "Event" (Festwochen-Koproduktion
mit dem Burgtheater, viel gelobter Autor, Star-Regisseur) erwartet, luxuriös.
Da spielen Könner, die einen auch erfreuen würden, wenn sie aus dem
Telefonbuch vorlesen. Die leicht erstarrte Kunst Edith Clevers passt
wunderbar
zu der alten Frau. Was für eine Bühnen-Präsenz! Was für ein
grandios stilisierter Realismus! Alleine wegen des weinenden Martin Schwab als
altem Mann könnte man das Drama ansehen. Philipp Hauß, linkisch, zärtlich
als junger Hausvater, Mareike Sedl als sein braves Mädchen; Adina Vetter,
nervös, fahrig, eine Frau, die es nicht schafft, schwanger zu werden; Raphael
Clamer sieht irritiert zu, wie sie immer hysterischer wird. Später erfährt
man, was aus den beiden geworden ist, er (Werner Wölbern) hat die Rolle
des Hausmanns übernommen, sie (Sylvie Rohrer) isst nur mehr bei ihm, wirft
sich dem nächsten Mann an den Hals: Köstlich, auch Klaus Pohl, der
ihr weder die Liebe noch die Trennung von ihrem Partner glaubt und eilends flüchtet.
Schließlich: Christian Nickel als hilfloser Sohn der Alten; wie er da steht,
mit dem toten Fisch, den er als Geschenk mit gebracht hat, die Katastrophe, in
der die Eltern stecken, ahnend, er will sie natürlich nicht wahr haben.
Steckt in diesen Genre-Szenen Bondys große Gabe für die Führung
von Bühnen-Menschen? Warum wirken sie dann in ihrer Verwunschenheit oft
so steril?
Was ist wirklich dran am vielfach preisgekrönten Autor Fosse? Reicht heute
schon eine Idee, um berühmt zu werden? Ist bei dieser Idee nicht allzu viel
abgekupfert von Ionescos absurdem Theater bis hin zu Botho Strauß' Paaren,
Passanten? Und heute: Gert Jonke, Albert Ostermaier, beide sind origineller als
Fosse. Er hat vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Er war Schauspieler.
Er versteht sein Handwerk. In seinen banalen Dialogen, seinen ineinander geschobenen
Figuren, Identitäten, Zeiten steckt unsere Welt. Keine Frage. Nur: Reicht
das für gutes Theater? Ist das nicht bloß ein wenig niveauvoller als
Fernsehen?
Im Akademietheater hat Bondy 2000 Yasmina Rezas "Drei Mal Leben" inszeniert,
ein "Windhöschen" nannte die deutsche Kritik das Stück. Mag
sein, jedenfalls war "Drei Mal Leben" wesentlich spannender, prägnanter
als "Schlaf". Das Publikum schien angetan, vielleicht, weil ihm ein
qualifiziertes Ensemble erzählte, was es ohnehin weiß. Auch das ist
ein Teil des Theaters. Und wo kämen wir hin, wenn angesagte Ereignisse nicht
stattfänden? Na also.
"Schlaf" in
Wien
Da bleibt das Zuschauerherz kurz stehen
Luc Bondy zaubert bei Jon Fosses seltsamen Stück "Schlaf" im Akademietheater
einen berührenden Theaterabend. Ein junge Frau (Mareike Sedl) mit Koffer
in der Hand bleibt im Gang stehen, dreht das Licht auf. Wir sehen eine leere
Wohnung, hinten liegt Abfall, Schutt (Bühnenbild: Karl-Ernst Herrmann). "Hier,
hier werden wir wohnen, du und ich", sagt sie zu einem jungen Mann (Philipp
Hauß), der eher sommerlich bekleidet die leere Wohnung betritt. Ein zweites
junges Paar (Adina Vetter und Raphael Clamer) kommt. Es dürfte der Kleidung
nach (Kostüme: Moidele Bickel) Winter sein. Auch sie wollen einziehen. Die
Paare nehmen sich gegenseitig nicht wahr. Während die einen schon zwei Kinder
haben, reden die anderen von der Kinderlosigkeit. Der zweite junge Mann geht
hinaus, plötzlich ist ein mittelalterlicher Herr in der Gestalt von Werner
Wölbern aufgetaucht. Kurz darauf treffen die erste junge und eine ältere
Frau (Edith Clever) aufeinander ...
Bei der Lektüre von "Schlaf" überwiegt einmal Ratlosigkeit.
Verschiedene Menschen kommen in verschiedenen Alterstufen zusammen. Sie planen
Zukunft, trennen sich, wollen nicht alles wahrhaben. Zwischen dem Beziehen der
Wohnung und dem Hinaustragen der alten Frau auf der Totenbahre liegt wohl ein
halbes Jahrhundert.
Theater findet nicht zwischen Buchdeckeln statt, sondern ereignet sich auf der
Bühne. Und bei Fosses "Schlaf" - eine Koproduktion der Wiener
Festwochen und dem Burgtheater - ereignet sich Wundersames. Fosses Kommunikationshäppchen
und Satzbruchstücke aus dem Mund großartiger Schauspieler lassen Welt
entstehen. Wie Martin Schwab und Edith Clever das alte Paar geben, wie
er liebevoll mit dem Kamm ihre Haare frisiert und dann sich selbst, dieser stumme
Protest
gegen den Skandal des Sterbenmüssens, da bleibt für einen kurzen Moment
das Zuschauerherz stehen.
Info: heute, 20.,21., 27., 28. Mai, 3., 4. und 5. Juni; Karten: 01 / 589 22 11;
www.festwochen.at
Großartig: Clever und Schwab
DIE
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Neurosen-Slapstick
Luc Bondy inszeniert "Schlaf" von Jon Fosse bei den Wiener Festwochen
von Ulrich Weinzierl
Eine Luxuspromenadenmischung. Häufig wird der Norweger Jon Fosse als Kreuzung
zwischen Ibsen und Beckett bezeichnet. Düsternis ist seine Muse, Reduktion
sein Stilmittel. Das Verstummen in seinen Stücken wird wie die Schatten
immer länger. Fosses Regisseure haben sich darum vor allem als Pausenfüller
zu bewähren, nicht Worte oder Sätze zu gestalten, sondern was dazwischen
liegt.
Wer dem Minimalismus huldigt, der braucht Archetypen statt Individuen. Stets
neigen Fosses Figuren zum Namenlosen. Drei Paare treten auf in "Schlaf",
Fosses jüngstem Stück, inszeniert von Luc Bondy als deutschsprachige
Erstaufführung im Wiener Akademietheater: ein mittelaltes Paar, ein älteres.
Hinzu kommen - als Ehestörer - "Der Mann" sowie - als Sohn - "Der
Sohn". Ort der Handlung: Eine leere Wohnung, die Karl-Ernst Herrmann als
Gehäuse erlesenster Tristesse statt mit Mobiliar mit Atmosphäre einrichtet.
"Zum Raum wird hier die Zeit", erklärt Wagners Gurnemanz dem reinen
Toren Parsifal. Die musiktheatralische Gleichung paßt auch auf Fosses "Schlaf".
Da rollen, indem die Zeitebenen überblendet werden, sämtliche Lebensphasen
parallel vor unseren Augen ab. Das Geheimnis von Luc Bondys Festwocheninszenierung:
dem Schematischen das Schematische auszutreiben, mit leichter Hand den Eindruck
des Natürlichen zu erwecken, einer Versuchsanordnung Grazie und Charme zu
verleihen. Es gelingt ihm vorzüglich.
Das erste junge Paar, Mareike Sedl und Philipp Hauß, das die Wohnung
in Besitz nehmen möchte, ist verliebt und voll Zukunftshoffnung. Doch
die Floskeln der Freude klingen bereits brüchig, zumal dann, wenn sie
Philipp Hauß mit berückender Mundfaulheit äußert. Das
zweite junge Paar hat den euphorischen Abschnitt offenkundig hinter sich: Routiniert
hantieren sie mit ihrem Unglückmodellbaukasten, die Phrasen greifen zahnrädchengleich
in einander. Die Sache zwischen den Beiden wird nicht gutgehen. Und in der
Tat: Als mittelaltes Paar kehren sie in Gestalt von Sylvie Rohrer und Werner
Wölbern wieder und legen traurige Bilanz: Beziehung kaputt, Frau betrügt
und verläßt den Mann, der Trost im Alkohol sucht, aber nicht findet.
Eine Glanzleistung: Klaus Pohls Kurzauftritt als ältlicher Liebhaber -
Neurosen-Slapstick von Format. Dem ersten jungen Paar widerfährt indes
besondere Verwandlung: Martin Schwab ist der Mann, Edith Clever die
Alte. Ihre Hinfälligkeit hat in seiner hilflosen Fürsorge ein anrührendes
Pendant. Letzte Liebe. So großartig Schwab die Rolle meistert: Die Clever übertrifft
ihn. Kleinste Gesten und Intonationsschwankungen kommen mit atemberaubender
Präzision: ein Kunststück jenseits der Künstlichkeit. Sogar
als Leiche ist die Clever virtuos bis zum Unheimlichen.
Fosse liebt das Symbolträchtige und Parabelhafte: Das lakonische Leitmotiv
seiner zarten Sonate über Vergänglichkeit und Vergeblichkeit lautet: "Winter
und Frühling; Sommer und Herbst". Bondys Inszenierung freilich konzentriert
sich auf anderes. Frei nach Ludwig Wittgenstein: Worüber man weder sprechen
noch schweigen kann, das muß man einfach spielen.
15. Mai 2006
18:20
Hundert Jahre Zweisamkeit
Erstaufführungsinszenierung von Jon Fosses "Schlaf" im Akademietheater:
Mysteriöse Lebenspaare in einen überzeugend poetischen ndspielraum
Wenn die Toten erwachen - und in Fosses "Schlaf" zum lebenslangen
Koexistieren gezwungen sind. Von li.: Werner Wölbern, Adina Vetter, Edith
Clever und Martin Schwab.
Von Ronald Pohl
Wien - Der einsilbige Theatertext Schlaf des Norwegers Jon Fosse ist eine Nachfeier
des bereits abgeebbten Beckett-Jubiläums: Menschen, deren fragile Paarordnungen
wie durch eine hauchdünne Membran voneinander getrennt erscheinen, bevölkern
parallel eine bis auf die nackten Wände abgemagerte Zimmerflucht, ein
Bürgerpurgatorium mit Wölbungen und Mauerdurchbrüchen (Bühne:
Karl-Ernst Herrmann).
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Menschen, die "die erste junge Frau" oder "der mittelalte Mann" heißen,
leben im Wiener Akademietheater nicht nur paarweise aneinander vorbei. Sie
unterliegen einer Konfusion der Zeitenfolge. Auf alle gleich scheint die Miniatursonne
einer nackten Glühbirne. Ein Heizkörper in Randlage scheint mit Blut
beschmiert, und ein leeres Fischbassin echot auf die verzehrende Einsamkeit
der zum Leben - wie zum Leben nach dem Sterben - Verurteilten.
In Fosses Stück kommt zusammen, was in den beliebigen Streuungsangeboten
einer blinden Schicksalmacht eigentlich gar nicht zusammengehören kann.
Denn während ein in seiner studentischen Naivität reizend beklommenes
Paar (Mareike Sedl, Philipp Hauß) die frisch erworbene Wohnung mit der
Zurückhaltung von verliebten Lebensanfängern studiert, mit Kratzfüßen
(Sedl), studentischem Zigarettendrehen (Hauß), rückt ein zweites,
merklich gereizteres Paar (Adina Vetter, Raphael Clamer) unheilstiftend nach.
Die künftige Familienzuflucht gleicht - nicht nur, weil beide Paare unterschiedlich
lustvoll mit monströsen Kinderwagen hantieren - einem Palimpsest: einer
Art Unterlage für prognostische Überschreibungen, wie das Paarleben
vom ersten Liebeslager an bis zur Totenbahre auszusehen habe.
Im tauben Miteinander der vorgeführten Modelle gibt es Übertrittsstellen.
Kaum merkliche Belichtungen einer Zusammengehörigkeit, deren verblüffende
Wirkung sich auf einige wenige Bewohner dieser mysteriösen Lebensverwahrungsanstalt
erstreckt.
Luc Bondy, der bis zur handwerklichen Ruhigstellung behutsame Erstaufführungsregisseur
dieser famosen Koproduktion von Burg und Festwochen, trotzt Fosses zungenschweren
Kommunikationsanläufen und -abbrüchen ("Hm, ja . . .")
ein berührendes Ballett ab.
Er zimmert mit der behutsamen Tücke eines Libellenfängers eine Gespensterschachtel.
Er lässt das bürgerliche Sezierbesteck beiseite. Er hat sichtbar
Freude am traumwandlerischen Endspiel einer fragilen Lebensform: der Paarbildung,
deren Haftungsenergien alle Wechselfälle der Untreue wie des Siechtums
wundersam überdauern.
Stille Wunder
Denn an stillen, raren Wundern ist diese gar nicht übertrieben kulinarische
Produktion verschwenderisch reich. Für die unmerkliche Dauer eines Lidschlags
wechselt der unglückliche "zweite junge Mann" seine Physiognomie.
Schlüpft unter beim rotgesichtigen "mittelalten Mann" (Werner
Wölbern), der das leere Basislager seiner zerstörten Ehehoffnungen
wie ein Stier abgeht, der die untreue, wohnungsflüchtige Gemahlin (Sylvie
Rohrer) in flagranti aufzuspießen wünscht. Der mysteriöse Kern
des Stückes aber liegt in einer geheimen Schwerpunktverschiebung. Denn "die ältere
Frau" (Edith Clever), eine ganz in Leinen-Weiß gehüllte Schamanin
der Schlurfschritte, überbrückt mühelos die Mitte ihrer unklaren
Existenz.
Sie ist die Wiedergängerin der "ersten jungen Frau". Sie fällt
in völlig unerklärliche Absencen - als würfe sie noch im Zusammenbrechen
die Tonnengewichte des Glücks wie Sisyphos-Steine von ihren Schultern.
Clevers Figur ist ein irrationales Wunder. Eine Art Hexe der Distanzüberbrückung,
vor deren traumartigen Vortodeserfahrungen ihr Mann (Martin Schwab), engelsgeduldig
gebückt auf sie einsprechend, wie vor einem sublimen Rätsel steht. Ungeschickt reißt Schwab die ihm abhanden kommende Frau hoch vom abfallenden
Plastikboden. Zum "mittelalten Mann" unterhält dieses erschütternde
Philemon-und-Baucis-Paar ein milde vampiristisches Verhältnis. Wieder
sind alle Zeitkategorien in der schändlichsten Verwirrung. Und während "der
mittelalte Mann" ein trostloses, von Schlafsack und Whiskey gestütztes
Dasein in erniedrigender Einsamkeit weiterfristen muss, zieht das Paar der
Alten unbeirrbar seine Runden: sie (Clever) verstummt im Rollstuhl, der über
Glasscherben knirscht. Er im Dialog mit dem pflichtvergessenen Sohn (Christian
Nickel), der bereits alle Anlagen für ein missglückendes Leben in
sich trägt. Eine poetische Spekulationstrommel über die ewige Wiederkehr
des Gleichen? Jedenfalls ein kleines Wunder der Theaterkunst. (DER STANDARD,
Printausgabe, 16.5.2006)
Hundert
Jahre Zweisamkeit
derStandard.at - Wien,Austria
... lebenslangen Koexistieren gezwungen sind. Von li.: Werner Wölbern,
Adina Vetter, Edith Clever und Martin Schwab. Von Ronald Pohl. ...
Sylvie Rohrer, Edith Clever und Werner Wölbern (v. links n. ...
Wiener Zeitung - Österreich
... Der Mann schiebt einen anderen Kinderwagen. Eine gebrechliche alte Frau (Edith
Clever) kämpft mit ihrer Hinfälligkeit und wohnt offenbar auch hier.
...
Theaterbeiträge
Im diffusen Licht der Erinnerung
Deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses "Schlaf" im Akademietheater
als Festwochen Co-Produktion
Sylvie Rohrer, Edith Clever und Werner Wölbern (v. links n. rechts). Foto:
apa/Artinger
Von Eva Maria Klinger
Die Zeit und das Zimmer. Das ist zwar der Titel eines besseren Stückes eines
anderen Autors, aber die Koordinaten treffen auch auf das jüngste Bühnenwerk
von Jon Fosse zu.
Ein junges Paar (Mareike Sedl, Philipp Hauß) betritt einen leeren Raum
und erklärt, dass es hier wohnen wird. Der Mann schiebt einen Kinderwagen
herein. Ein anderes junges Paar (Adina Vetter, Raphael Clamer) betritt den Raum
ohne das erste wahrzunehmen und wird ebenfalls hier logieren. Der Mann schiebt
einen anderen Kinderwagen. Eine gebrechliche alte Frau (Edith Clever) kämpft
mit ihrer Hinfälligkeit und wohnt offenbar auch hier.
"
Schlaf" meint vermutlich jenen halbwachen Zustand vor Eintritt des Todes,
in dem die Zeitebenen der Vergangenheit ineinander fließen, sich auflösen.
In diesem Dämmerzustand zwischen Halluzination und Erinnerung befindet sich
die "ältere Frau", der Edith Clever Ausstrahlung und Aura verleiht.
Sie bricht immer wieder zusammen, wird immer wieder von ihrem fürsorglichen "älteren
Mann" (Martin Schwab) hochgehoben, in den Rollstuhl gesetzt, im Kreis gefahren.
Drehen im Kreis
Im Kreis drehen sich auch Erinnerungen an ihre junge Ehe, als sie dieses Zimmer
erstmals betreten hat. Andere Szenen, die auf Ehebruch hindeuten, überlagern
sich mit Fragmenten, die vielleicht nur in Träumen der älteren Frau
existieren oder bereits die Bewohner des Zimmers nach dem Tod des alten Paares
betreffen. So kann es sein. Es kann aber auch ganz anders sein. Zuletzt kommt
ein Sohn (Christian Nickel) des Paares zu Besuch, er bringt einen toten Fisch
und etwas Realität mit. Die ältere Frau stirbt. Jon Fosse liebt das
Fragmentarische, das rätselhafte Spiel mit Raum und Zeit.
Namenlose Personen, meist als "er", "sie" oder "die
junge Frau" bezeichnet, treten auf und ab ohne etwas Bedeutendes oder gar
Zusammenhängendes gesagt zu haben. Dass man in "Schlaf" nicht
in denselben verfällt, dankt man der subtilen und präzisen Aufführung.
Regisseur Luc Bondy und seinen vorzüglichen Schauspielern gelingt es, knisternde
Spannung und poetisches Flair zu verbreiten. Mag ja sein, dass die Hoffnung auf
ein finales Ereignis oder die Auflösung der rätselhaften Vorgänge
die Spannung wach hält. Virtuos gleiten die Schauspieler über den Schwebebalken
der Zeit. Wenn Sylvie Rohrer lacht oder Werner Wölbern immer wieder
"Ja,
so ist das eben" sagt oder Edith Clever sinniert "Alles ist anders – immer
dasselbe und immer verschieden" schämt man sich, solches für eine
Platitude zu halten.
Jon Fosses Sprache ist einsilbig, lakonisch. Mit dem Vokabular, das der norwegische
Autor in seinen 30 Stücken einsetzt, könnten andere Autoren den ersten
Akt nicht überstehen. Trotzdem gelingt es einem exzellenten Ensemble immer
wieder, den Sprechblasen ein Geheimnis einzuhauchen. Nach 90 Minuten wurden Jon
Fosse,
Meisterregisseur Luc Bondy und seine edlen Schauspieler, Karl-Ernst Herrmann
(Bühne) und Moidele Bickel (Kostüme) vom Premierenpublikum freundlich
bedankt.
Schade, dass man in Wien seit 16 Jahren Botho Strauß’ "Die Zeit
und das Zimmer" nicht mehr gesehen hat.
von Jon Fosse
Luc Bondy (Regie)
Raphael Clamer, Edith Clever, Philipp Hauß
Akademietheater
Studie über
den Tod: Bondy inszeniert Fosses «Schlaf»
Wien (dpa) - Die Alte versucht aufzustehen, aber es will nicht gehen. Ihr Mann
umfasst sie an der Taille, zieht sie hoch, wankt selbst - und dann klappt es
doch; unbeholfen halten sie sich aneinander fest, nicht sicher stehend, aber
doch nicht fallend.
In diesem brüchigen Zustand zwischen Entgleiten und Fassen hält
Regiemeister
Luc Bondy in seiner Wiener Festwochen-Inszenierung das neue Drama «Schlaf» des
norwegischen Autors Jon Fosse über 90 Minuten hinweg in der Schwebe. Das
Premierenpublikum am Sonntagabend im Wiener Akademietheater spendete langen,
herzlichen Applaus für eine sanfte, eindringliche Studie über den
Tod.
Fosse, dessen still-melancholische Dramen wie «Da kommt noch wer» oder «Traum
im Herbst» seit einigen Jahren auch die deutschsprachigen Bühnen
erobern, bringt das Ungesagte zwischen seinen Protagonisten zur Sprache. Die
Dialoge bleiben rudimentär und hilflos, das Schweigen zwischen den abgebrochen
Sätzen ist das eigentliche Zentrum seiner Stücke.
In «Schlaf» lässt er Paare in einer Wohnung aufeinander treffen,
die einander nicht wahrnehmen: Fosse legt verschiedene Zeitebenen übereinander,
die Figuren begegnen sich selbst in einer anderen Lebensphase. Vergangenes
und Zukünftiges, Mögliches und Realisiertes wird gleichzeitig sichtbar.
Der Titel legt dabei die Assoziation zum Psalmwort «Komm o Tod, du Schlafes
Bruder» nahe.
Bondy greift diesen Hinweis auf und schafft in seiner musikalischen Inszenierung
mit einem weitgehend homogenen Ensemble ein leises, berührendes Rondo über
Todesarten.
Da ist der langsame körperliche Tod der «älteren
Frau» (Edith Clever) und das rührend hilflose Bemühen des «älteren
Mannes» (Martin Schwab), ihr Dahinschwinden aufzuhalten mit seinen Armen,
mit Erinnerungen, mit Beschwörungen.
Da ist der langsame, qualvolle Tod der Beziehung zwischen dem «mittelalten
Mann» (Werner Wölbern) und der «mittelalten Frau» (Sylvie
Rohrer), der sich schon im ersten Auftritt des jungen Paares andeutet. Der
hässliche Kinderwagen, vom «jungen Mann» (Raphael Clamer)
im Überschwang gekauft, bleibt leer, die Distanz zwischen den Partnern
wird immer größer. Da ist die gespenstische Begegnung zwischen der älteren
Frau und dem mittelalten Mann, die weit in die Zukunft reicht und mit plötzlicher
Aggression Ängste freilegt.
Bondy zeigt sich einmal mehr als Meister des Details. Immer wieder laufen Bewegungen
der Figuren ineinander wie musikalische Motive, minimale Verschiebungen deuten
das Kippen an. Auf der reduzierten Bühne (Karl-Ernst Herrmann, Kostüme:
Moidele Bickel) konzentriert sich alles auf die Sprachlosigkeit der Figuren
und ihre Unbeholfenheit mit sich selbst.
«
Schlaf» wird in dieser deutschsprachigen Erstaufführung, die als
Koproduktion von Wiener Festwochen und Burgtheater entstanden ist, zu einer
melodiösen Reflexion über den Tod und die Zeit, über Möglichkeiten
und verpasste Chancen und nicht zuletzt über die Unfassbarkeit des Lebens.Artikel
vom: 15.05.2006 12:26
Theaterbeiträge
Im diffusen Licht der Erinnerung
Deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses "Schlaf" im Akademietheater
als Festwochen Co-Produktion
Sylvie Rohrer, Edith Clever und Werner Wölbern (v. links n. rechts). Foto:
apa/Artinger
Von Eva Maria Klinger
Die Zeit und das Zimmer. Das ist zwar der Titel eines besseren Stückes eines
anderen Autors, aber die Koordinaten treffen auch auf das jüngste Bühnenwerk
von Jon Fosse zu.
Ein junges Paar (Mareike Sedl, Philipp Hauß) betritt einen leeren Raum
und erklärt, dass es hier wohnen wird. Der Mann schiebt einen Kinderwagen
herein. Ein anderes junges Paar (Adina Vetter, Raphael Clamer) betritt den Raum
ohne das erste wahrzunehmen und wird ebenfalls hier logieren. Der Mann schiebt
einen anderen Kinderwagen. Eine gebrechliche alte Frau (Edith Clever) kämpft
mit ihrer Hinfälligkeit und wohnt offenbar auch hier.
"
Schlaf" meint vermutlich jenen halbwachen Zustand vor Eintritt des Todes,
in dem die Zeitebenen der Vergangenheit ineinander fließen, sich auflösen.
In diesem Dämmerzustand zwischen Halluzination und Erinnerung befindet sich
die "ältere Frau", der Edith Clever Ausstrahlung und Aura verleiht.
Sie bricht immer wieder zusammen, wird immer wieder von ihrem fürsorglichen "älteren
Mann" (Martin Schwab) hochgehoben, in den Rollstuhl gesetzt, im Kreis gefahren.
Drehen im Kreis
Im Kreis drehen sich auch Erinnerungen an ihre junge Ehe, als sie dieses Zimmer
erstmals betreten hat. Andere Szenen, die auf Ehebruch hindeuten, überlagern
sich mit Fragmenten, die vielleicht nur in Träumen der älteren Frau
existieren oder bereits die Bewohner des Zimmers nach dem Tod des alten Paares
betreffen. So kann es sein. Es kann aber auch ganz anders sein. Zuletzt kommt
ein Sohn (Christian Nickel) des Paares zu Besuch, er bringt einen toten Fisch
und etwas Realität mit. Die ältere Frau stirbt. Jon Fosse liebt das
Fragmentarische, das rätselhafte Spiel mit Raum und Zeit.
Namenlose Personen, meist als "er", "sie" oder "die
junge Frau" bezeichnet, treten auf und ab ohne etwas Bedeutendes oder gar
Zusammenhängendes gesagt zu haben. Dass man in "Schlaf" nicht
in denselben verfällt, dankt man der subtilen und präzisen Aufführung.
Regisseur Luc Bondy und seinen vorzüglichen Schauspielern gelingt es, knisternde
Spannung und poetisches Flair zu verbreiten. Mag ja sein, dass die Hoffnung auf
ein finales Ereignis oder die Auflösung der rätselhaften Vorgänge
die Spannung wach hält. Virtuos gleiten die Schauspieler über den Schwebebalken
der Zeit. Wenn Sylvie Rohrer lacht oder Werner Wölbern immer wieder "Ja,
so ist das eben" sagt oder Edith
Clever sinniert "Alles ist anders – immer
dasselbe und immer verschieden" schämt man sich, solches für eine
Platitude zu halten.
Jon Fosses Sprache ist einsilbig, lakonisch. Mit dem Vokabular, das der norwegische
Autor in seinen 30 Stücken einsetzt, könnten andere Autoren den ersten
Akt nicht überstehen. Trotzdem gelingt es einem exzellenten Ensemble immer
wieder, den Sprechblasen ein Geheimnis einzuhauchen. Nach 90 Minuten wurden Jon
Fosse,
Meisterregisseur Luc Bondy und seine edlen Schauspieler, Karl-Ernst Herrmann
(Bühne) und Moidele Bickel (Kostüme) vom Premierenpublikum freundlich
bedankt.
Schade, dass man in Wien seit 16 Jahren Botho Strauß’ "Die Zeit
und das Zimmer" nicht mehr gesehen hat.
von Jon Fosse
Luc Bondy (Regie)
Raphael Clamer, Edith Clever, Philipp Hauß
Akademietheater
Wh.: 16., 20., 21., 27. Mai
Karten: http://www.festwochen.at
Einschläferndes Werk,
wache Ensembleleistung.
Montag, 15. Mai 2006
16.05.2006
Schlafes Zimmer
Wiener Festwochen: Luc Bondy inszeniert Jon Fosse mit Edith Clever
Von Andres Müry
Anzeige
Ein altes Haus, ein leeres, abgewohntes Zimmer, das wie im Schlaf liegt. Eine
nackte Glühbirne hängt vom Plafond, ein totes Telefon steht in der
Ecke. Die alten Bewohner sind weg, neue sind noch nicht da. Und jetzt könnten
die leeren weißen Wände anfangen zu erzählen, viele Stimmen durcheinander:
von Generationen und Schicksalen, von Glück und Leid, Liebe und Hass, Geburt
und Tod.
Mit dieser Vorstellung etwa muss sich der norwegische Seelen- und Seriendramatiker
Jon Fosse in seiner Hütte am Fjord vor seinen leeren Bildschirm gesetzt
haben. Jetzt ist das Opus mit dem Titel „Schlaf“ von Luc Bondy bei
den Wiener Festwochen im Akademie-Theater in deutschsprachiger Erstaufführung
inszeniert worden. In einem liebevoll hyperrealistischen, auch ein wenig surrealistischen
Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann, mit einer Schar hingebungsvoll charakterisierender
Menschendarsteller, in der Mitte die große Edith Clever in ihrem Debüt
als Greisin.
Es ist natürlich tollkühn, zu behaupten, dieses prunkende Schauspielertheater
verfehle Fosses neueste Übung in sprachlichem Minimalismus – wo der
Autor doch rosig animiert mit gepflegtem Dreitagebart im Arm des Regisseurs den
Applaus entgegennimmt. Aber dennoch: Fosse ist kein Menschendramatiker, weder
norwegischer Kroetz noch skandinavischer Strauß, sondern ein cooler, gleichmütiger
Sampler anonymisierter Stimmen, mit denen er die immer gleichen menschlichen
Beziehungsmuster variiert.
Zusätzlicher dramaturgischer Trick in „Schlaf“: Das leere Zimmer
funktioniert wie eine Zeitzentrifuge. Die zwei „jungen Paare“, die
da zu Beginn auf Wohnungssuche eintreten, altern in den neunzig Minuten, geben
die Stafette fliegend an sich selber weiter. Das eine Paar (Adina Vetter, Raphael
Clamer) ist das problematische, bleibt kinderlos, trennt sich, als „Mittelalte“ (Werner
Wölbern, Sylvie Rohrer) trifft man sich trostlos wieder. Ein Liebhaber (Klaus
Pohl) ist dazu getreten. Das andere Paar (Mareike Sedl, Philipp Hauß) ist
das optimistische, bekommt dreifachen Nachwuchs, es mutiert gleich zum „älteren
Paar“ (Edith Clever, Martin Schwab) und erhält vom Sohn (Christian
Nickel), bevor die Mutter stirbt, noch klammen Besuch.
Fosse schreibt diesmal anders als in den früheren Stücken nicht einmal
den Ort vor, ist äußerst sparsam mit Szenenanweisungen und verlangt
nur wenige Requisiten. Zwei Kinderwagen für die jungen Paare; Stock, Rollstuhl
und schließlich Bahre für die „ältere Frau“.
Hier muss Bondy der horror vacui gepackt haben. Er kippt den Schauspielern ein
ganzes Füllhorn von Requisiten vor die Füße. Spielsachen werden
ausgepackt, Spieluhren zum Klingen gebracht. Man isst Stullen oder auch Rohkost
aus der Tupperwaredose. Man rasiert sich, wäscht sich die Haare, raucht.
Vollgeschissene Pampers werden (vom jungen Papa) betreten weggebracht. Der Stecker
des Bügeleisens verlangt nach Reparatur, eine Schnapsflasche nach Leerung.
Schließlich bringt der Sohn einen echten Hering mit – die Aufzählung
ist keineswegs vollständig.
Statt Leere und Konzentration drängeln sich auf der Bühne Geschichten
und Anekdötchen. Wo immer man hinschaut, ist immer was los. Vor lauter szenischem
Lärm hört man nicht das, worauf es ankommt: auf Jon Fosses vielgerühmte
Wortmusik.
Nur eine lässt sich bei alldem die Butter nicht vom Brot nehmen: Edith Clever.
Allein schon ihr Auftritt: Das Haar grausträhnig, helles verwaschenes Leinensakko,
Beine bandagiert, schlurft sie im Greisinnengang vor. Und dann, mit großer
umfassender Geste und Clever-Ton: „Ich bin schon immer hier gewesen!“ Das
heißt: Ich bin das Gedächtnis dieses Zimmers. Und da es von Karl-Ernst
Herrmann stammt, ist es wohl auch ein spätes Echo von der Schaubühnen-Lotte
aus „Groß und Klein“.
In einem älteren Stück von Fosse – wer kann sie übrigens
noch auseinander halten? – , im „Sommertag“ gibt es ebenfalls
eine ältere Frau: In ihrem Haus am Fjord wartet sie auf die Rückkehr
ihres Lebensgefährten und sieht sich plötzlich als junge Frau, wie
sie in die Sturmnacht hinausschaut, wo irgendwo auf dem Wasser ihr Mann im Boot
treibt. „Und da stand ich“, sagt sie, „und wurde immer leerer/… Jetzt
war ich eine leere Dunkelheit/… Tief in mir drin … spürte ich,
dass die leere Dunkelheit leuchtete/still/ohne Bedeutung/ohne Worte.“
Hier steckt wahrscheinlich so etwas wie die Bühnenästhetik von Jon
Fosse, die ein kluger Kopf „negative Mystik“ genannt hat. Von jenem
Leuchten sieht man etwas im Gesicht von Edith Clever, wenn sie am Ende im Rollstuhl
sitzt und uns lange anschaut, still, aber keinesfalls leer. Und Bondy hat einen
schönen Einfall: Die Schauspieler sagen aus dem Off Echos ihrer Sätze
ein und übernehmen gleichsam die Rolle des Gedächtnisses, das da erlischt.
Das hätte man gerne lange ertragen, bis zum fade out. Aber Fosse will es
anders. Er lässt die Alte tot umkippen, und Martin Schwab und Werner Wölbern
legen sie auf die Bahre und tragen sie hinaus, sachlich, wie Männer von
der Rettung. Und Bondy schickt noch ein paar tröstende Klavierläufe
von Mozart hinterher.
Mozart, natürlich, regiert die diesjährigen Wiener Festwochen des Intendanten
Luc Bondy, dem Stéphane Lissner das Musikprogramm besorgt: „Die
Zauberflöte“ von Daniel Harding und Krystian Lupa, „Cosi fan
tutte“ von Harding und Patrice Chéreau, „Zaide“ von
Louis Langrée und Peter Sellars sowie das Auftragswerk „Der Don
Giovanni Komplex“ von Olga Neuwirth und Erwin Riess. Sigmund Freud aber,
der andere Jubilar, wäre aufgerufen, das tiefste Rätsel von Bondys „Schlaf“ zu
lösen. Auf der Bühne steht von Anfang bis Ende eine eingepackte Kloschüssel.
Dienstag,
den 16. Mai
under construction
dradio.de
URL: http://www.dradio.de/kulturnachrichten/20060516090000/drucken/KULTURNACHRICHTEN
Dienstag, 16. Mai 2006 09:30 Uhr
Unterschiedliches Echo auf deutsche Erstaufführung von Jon Fosses "Schlaf" in
Wien
Luc Bondy hat Jon Fosses Gespenstern Leben eingehaucht. So hat die "Frankfurter
Allgemeine Zeitung" die deutsche Erstaufführung des Stückes "Schlaf" des
norwegischen Autors Jon Fosse gesehen. In der Inszenierung von Regisseur Luc
Bondy am Wiener Akademietheater fänden die Figuren des Dramatikers Maßgeschneidertes.
Kritik kommt hingegen von der "Süddeutschen Zeitung": Bondy
habe versucht, "das Stück zum Tanzen zu bringen", ihm aber nur "einen
gut gewarteten Rollstuhl verpasst". Die Zeitung "Die Presse" aus
Wien wird noch deutlicher und urteilt: "Ziemlich langweilig". Die
Inszenierung mache "einen zerstreuten und beiläufigen Eindruck";
und vor allem "im Mittelteil dehnten sich die Minuten zu Stunden".
SZ
aus Perlentaucher
Luc Bondy und Jon Fosse passen nicht zusammen, hat Christopher Schmidt auf
den Wiener Festwochen festgestellt. Bondys inszenatorische Hyperaktivität
lähmt Fosses Melancholie in "Schlaf". "Auch die heterogene
Spielweise bekommt dem Stück nicht gut. Philipp Hauß etwa wuchtet
seinen jungen Mann als einsilbigen Schrat mit dem hölzernen Charme einer
Nordmanntanne auf die Bühne, während Edith Clever eine
Art Schlurfballett in Fellschuhen vollführt und wie eine alte Eskimo-Squaw um den Totem
tanzt. Mit tausend welken Großgesten der gelernten Tragödin beschwört
sie die Plagen des Alters. Ihren späteren Sturz hatte Bondy ironisch
vorweggenommen, als er ihr junges Double, Mareike Sedl, auf einem Spielzeugauto
ausrutschen ließ."
FAZ
aus Perlentaucher
Luc Bondys Inszenierung von Jon Fosses neuem Stück "Schlaf" in
Wien ("Bondy spendiert Fosses Spukgestalten einen Seelenabgrund",
schreibt Gerhard Stadelmaier freudig erregt),